Weniger
Weniger Wohlstand, mehr Mehrheitstauglichkeit
Ich bin unpopulär, ja unmehrheitstauglich. Nicht, weil ich mir Brot aus der Bäckerei in eine mitgebrachte Stofftasche geben lasse oder stur (und auch etwas verrückt) Langstrecken (> 2.000 km) mit dem Zug zurücklege. Auch nicht, weil ich nicht mit meiner besten Freundin nach Japan fliege. Nicht einmal, weil ich kein Fleisch esse, denn ich esse dankbar jede Beilage. Ich würde behaupten, dass ich niemandem Probleme mache. Dennoch bleibe ich unpopulär.
Warum? Ich bin eine Moralapostelin. Zumindest wurde ich des Öfteren als eine bezeichnet, früher. Heute nur noch, wenn ich bei ausreichender Vertrauensbasis, ehrlichem Interesse und der Freiheit, nicht einer Meinung sein zu müssen, wirklich meine Meinung sage. Ich habe nie verstanden, was daran eine Beleidigung sein soll, sich gut zu verhalten und sich für ein ethisches Verhalten stark zu machen. Fast wird erwartet, dass ich mich dafür schäme, so aus der Reihe (des normalen Konsumverhaltens) zu fallen. Heute verbeiße ich mir die Zunge, wenn in meiner Familie ein Zweitauto gekauft wird, schlucke regelmäßig meinen Kommentar hinunter, wenn Freunde schnell mal nach Berlin oder in die Karibik fliegen. Nein, es macht keinen Spaß, andere zurechtzuweisen – darum tue ich es nicht. Wir leben in einem freien Land. Jeder Mensch darf und soll sein eigenes Leben frei gestalten.
Nur nicht auf die Kosten anderer, finde ich. Denn dann wird anderswo Freiheit geschmälert, und das ist nicht okay. Das mag nach Verbot klingen, nach Vorschrift. Das Gegenteil ist der Fall: Befreiung, durch und durch. Es ist simpel. Diese Streitschrift gegen die Maßlosigkeit könnte nach diesem einen Satz, der alles Wesentliche sagt, enden. Ein Satz, ein Prinzip, das es zu verinnerlichen gilt, und es würde sich alles ändern, in uns, die wir zufriedener wären und gesünder lebten, und im Außen, das an Umweltfeindlichkeit und Egoismus rapide schrumpfen würde. Ein Satz, so einfach, so oft gelesen, aber nicht verinnerlicht: Weniger ist mehr. Verstanden? Weniger ist mehr. Das Weniger-ist-mehr-Prinzip lässt sich sogar wissenschaftlich belegen: Nicht nur gibt es irgendwann eine Sättigung des Glücklichseins mit zunehmendem Einkommen bzw. Konsum, zu großer Konsum macht tatsächlich unglücklich. Das haben Glücksforscher herausgefunden, das sagen Religionen, das sagt uns die pure Logik, der „Hausverstand“, der in Österreich schließlich hochgepriesen wird. Natürlich, darüber, wo dieser Punkt liegt, ab wann man nun von großem Konsum spricht und was noch unter „normalen“ Konsum fällt, darüber lässt sich streiten. Fakt ist aber, dass das, was heute Standard ist und gemeinhin als Wohlstand bezeichnet wird, definitiv zu hoch ist. Wir kämpfen nicht mehr gegen Hunger, sondern gegen Übergewicht, Diabetes Typ II und Fehlernährung. Wir, im „Wohlstand“, kämpfen nicht mehr gegen körperliche Erschöpfung, sondern gegen Bewegungsmangel, Rückenprobleme und psychische „Erschöpfung“, Burnout, Depression, Vereinsamung.
Gesundheit kann man nicht kaufen (nur verbrauchen). Genauso wenig Freundschaften. Genuss bedeutet für mich nicht, zu haben, was ich will, zu jeder Zeit. Es ist ja gerade die Seltenheit einer Sache, die sie besonders macht. Wenn ich täglich Schokolade esse, erfahre ich nicht dieselbe Gaumenfreude, wie wenn ich das nur zwei Mal im Monat tue. Reisen: Ich kenne Menschen, die im Alter von 25 Jahren bereits auf jedem Kontinent waren. Ich habe nicht das Gefühl, dass sie dadurch glücklicher oder dankbarer geworden sind. Ich finde es seltsam, dass ein junger Mensch die Niagarafälle in den USA gesehen hat, aber noch nie im Nationalpark Hohe Tauern war (da gibt es übrigens die Krimmler Wasserfälle). Wer’s nicht weiß, der Nationalpark liegt in Österreich.
Ich finde nichts Tolles an Maßlosigkeit, ehrlich. Maßlosigkeit ist alles andere als schön oder cool und hat bei genauerem Hinsehen nichts mit „sich etwas gönnen“ zu tun. Materielle Maßlosigkeit bedeutet Egoismus pur und ist kurzsichtig für die eigene psychische wie physische Gesundheit. Ich bin in Wahrheit eben doch mehrheitstauglich – und strebe danach, einen Lebensstil zu leben, der eine Mehrheit tragen kann. Maßlos möchte ich wenn dann nur in einer Sache sein: im Streben nach einem guten Leben. Für alle.
Der Originaltext erschien in der marie #46 | Jänner 2020. Er wurde leicht abgeändert.