11 Erde
Finger streifen über die hartgewordene Kruste
Der Juni kam und mit ihm die Hitze. Die Hitze blieb, als der Juni ging, nur eine starke Trockenheit gesellte sich zu ihr. War es früher auch derart trocken gewesen? Der Boden in den Stadtparks und in den Gärten der Privilegierten war tief zerfurcht und in ein relativ regelmäßiges Muster kantiger Erdbrocken zerfallen. Das Gras war im Ableben begriffen, die Spitzen rollten und kringelten sich bereits zusammen, als versuchten sie, das Wasser in ihnen zurückzuhalten; die Halme waren fahl, gelblich. Jene Ränder von Grasflächen, die an Bauten mit verglasten Wänden grenzten, waren insbesondere südseitig der Spiegelflächen verdorrt. Im Rasen zeigte sich deutlich eine scharfe Trennlinie, bis wohin das Licht reflektiert worden war. Andernorts waren verdorrte Stellen inmitten offener Flächen zu sehen.
An meinem Arbeitsplatz sitzend sah ich die Zeichen der Trockenheit nicht. Es war nur heiß und ich war nicht sonderlich motiviert und schrieb Yvonne, fragte sie, wie es ihr geht. Yvonne war eine ehemalige Studienfreundin von mir. Sie war auf der Botanik in Innsbruck geblieben, wo sie jetzt in Teilzeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin in Forschungsprojekten und in der Lehre mitwirkte. In ihrer „zweiten Teilzeit“ war sie als Gärtnerin für die Pflege der Pflanzen und die Instandhaltung der Gartenanlage tätig. Vermutlich war es letzteres, das mich, unwillentlich den ganzen Tag vor dem Bildschirm sitzend, ihr schreiben ließ.
Die Kombination ihrer beiden Tätigkeiten war nicht nur unüblich, sondern das Ergebnis Yvonnes hartnäckiger Bemühungen. Yvonne brauchte Erde, die sie mit ihren Händen fühlen, von Beikraut befreien und hin und wieder mit einer Schaufel bearbeiten konnte. Bevorzugt, um ein Saatbeet anzulegen oder ein Pflanzloch zu graben. Ich vermisste diese Tätigkeiten in meinem Büroarbeitsalltag, wünschte mir diese Erdung und den ganzheitlicheren Lebensstil, den ein solches Berufsprofil mit sich brachte.
Ein künstlicher Rufton riss mich aus meinen Gedanken. Ein eingehender Skype-Call meiner Arbeitskollegin Selina. Sie rief sicher wegen des bevorstehenden WP Meetings an. Ich suchte schnell mein Headset, das zwischen der Dockingstation und meinem privaten Notebook lag, schloss es an, klickte im offenen Skype-Programm noch schnell auf den Ja-Button der Frage, ob ich den Sound zu Blackwire Plantronics 3200 wechseln möchte und sagte, so freundlich ich konnte: „Hallo Selina.“
Zwanzig Minuten später und etwas besser gelaunt vertiefte ich mich wieder in den Bodenfeuchtigkeit-Monitoring-Bericht (wenn auch die Bezeichnung Bodentrockenheits-Monitoring zutreffender gewesen wäre). Nach etwa zweieinhalb Stunden brauchten meine Augen definitiv eine Pause und ich beschloss, mir zu erlauben, kurz in den Garten zu gehen.
Auch in unserem Garten waren die Grashalme dürr und vertrocknet, hatte der Boden stellenweise Risse. Ich inspizierte eine solche Stelle genauer, ging in die Hocke und fuhr mit meinen Fingern über die hart gewordene Kruste. Ich dachte an Yvonne und die Landwirte, die mit uns zusammenarbeiteten, uns Messungen auf ihren Feldern durchführen ließen. Ich dachte an die Welt – an unseren physischen, räumlich begrenzten Planeten, die Erde – und wie wir uns die eigene Lebensgrundlage, buchstäblich, nahmen. Raubten.
Aus den Augenwinkeln sah ich eine Bewegung und richtete mich wieder auf. Es war Corinna, unsere Nachbarin fünf Häuser weiter. Sie winkte mir freundlich von der anderen Straßenseite zu und ich tat es ihr gleich. An ihrer nicht-winkenden Hand hielt sie ihren Sohn Nils; sie musste ihn von der Nachmittagsschule abgeholt haben.
Plötzlich verschob sich meine Wahrnehmung. Ich blickte auf den Gehsteig, auf dem Mutter und Sohn nun nach Hause gingen; auf die asphaltierte Straße. Ich sah den Asphalt der ganzen Stadt vor meinem inneren Auge, grau, leblos, unfähig, Wasser aufzunehmen, Leben und Nahrung wachsen zu lassen. Und ich fragte mich, ob wir nicht völlig verrückt sind.
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