„Der Widerstand deckt eine kolossale Heuchelei auf“
Interview mit Niko Paech
Der renommierte Wachstumskritiker Niko Paech (62) setzt sich vehement für die Sicherung unserer Lebensgrundlagen ein. Er kritisiert scharf unwirksame Maßnahmen und leere Floskeln der Politik und der Mehrheit der Gesellschaft, erklärt, warum wir nicht auf die Technik setzen können und es zuallererst eine kleine Wirtschaft mit weniger Konsum und Mobilität braucht. Unpopuläre, stichhaltige Worte.
Interview von Christina den Hond-Vaccaro, erschienen in der marie – Die Vorarlberger Straßenzeitung, #79, Februar 2023, S. 18-21
Vor Jahren sagten Sie im marie-Interview, Krisen können den Prozess in Richtung klimaverträgliche Gesellschaft beschleunigen. Nach der Pandemie und dem Kriegsausbrauch in der Ukraine: Bewegen wir uns schneller?
Die Krisen, die wir gerade erleben, sind nicht hinreichend, um moderne Gesellschaften auf einen Entwicklungspfad zu bringen, an dessen Ende eine Postwachstumsökonomie oder ein ökologisches Überlebensprogramm steht. Doch mit jeder Krise steigt die Anzahl derjenigen Menschen, die den Glauben an die Fortsetzbarkeit unseres Lebensstils verloren haben. Das ist noch keine Mehrheit. Die Mehrheit wird nach einer Krise einen gewissen Nachholbedarf an den Tag legen. Wir können nicht ausschließen, dass ausgerechnet der dekadenteste und ökologisch zerstörerische Luxus sogar kurzfristig gesteigert wird, wenn wir an Urlaubsflüge, Kreuzfahrten oder die Nachfrage an SUVs denken.
Wenn es nicht die Krise ist: Was braucht es dann?
Das weiß niemand. Ob die menschliche Zivilisation überleben kann, ist inzwischen offener denn je. Es lässt sich ein spannendes Szenario beobachten: Nie waren die Menschen so gebildet, so frei, so reich, so problembewusst, so politisch korrekt und nie haben sie gleichzeitig so ruinös über ihre Verhältnisse gelebt. Nicht auszuschließen ist, dass es ein unschönes Finale gibt. Solange dieses aber nicht eingetreten ist, sehen es viele Menschen und auch Wissenschaftler wie ich als ihre Pflicht, gegen den Steigerungswahn, der uns die Lebensgrundlage kostet, vorzugehen.
„Spannend“ sagen Sie. „Zum Verzweifeln“ sage ich. Wie gehen Sie persönlich mit der großen Diskrepanz von absoluter, globaler und folgenreicher Dringlichkeit einerseits und der weitreichenden unveränderten Konsumpolitik, -wirtschaft und -gesellschaft andererseits um?
Als wirtschaftswissenschaftlicher Nachhaltigkeitsforscher folge ich meinem Arbeitsauftrag. Persönlich tangiert mich das überhaupt nicht. Ich bin 62 Jahre alt, für mich muss die Welt nicht gerettet werden. Mir tun diejenigen leid, die nicht einmal 20 sind, also noch sieben Jahrzehnte vor sich haben, in denen sich die Lebensbedingungen extrem verschlechtern können. Als Wissenschaftler empfinde ich durchaus Empathie für diese Mitmenschen, auch das treibt mich an.
Wie nehmen Sie junge Menschen in der Klimafrage wahr?
Die junge Generation – das kann man ihr aber bitte nicht zur Last legen, zumal sie Opfer eines kompletten Versagens unserer Erziehungsmaximen und unseres Bildungssystems ist – zieht keine Konsequenzen. Was in Lützerath geschah [Anm.: Protest der Räumung des von Aktivisten besetzten Braunkohleortes in Deutschland] oder unter dem Label von Fridays for Future, Extinction Rebellion und Co geschieht, ist ein Minderheitenphänomen. Das Gros junger Menschen, die natürlich die Welt erleben wollen, stellen heute höhere Anforderungen an Mobilität, Techniknutzung und Komfort als jede vorherige Generation. Aber nochmal: Das möchte ich nicht den jungen Menschen vorwerfen, sondern verdeutlichen, dass die letzten Elterngenerationen ihrem Nachwuchs alle Maximen vorenthalten haben, die zur Überlebensfähigkeit beitragen.
Welche Maximen sind das?
Genügsamkeit. Disziplin. Widerstandsfähigkeit. Verantwortungssinn.
Mit gesellschaftlichen Konflikten meinen Sie vor allem aktivistische Formen des Protestes?
Selbstverständlich. Es ist von der Reaktion politischer Akteure und der Mehrheit der Gesellschaft abhängig, wie hart diese Kämpfe werden. Fridays for Future war mehr oder weniger harmlos, Extinction Rebellion schon nicht mehr ganz so sanft. Jetzt lesen viele Menschen das Buch vom schwedischen Soziologen Andreas Malm „Wie man eine Pipeline in die Luft jagt“. Das Erreichen ständig neuer Steigungsstufen der Verarbeitung gesellschaftlicher Widersprüche ist unübersehbar. Die Polizei kann aufrüsten, aber sie wird diese Konflikte nicht verhindern. Irgendwann werden Menschen jeglichen Alters sagen: „Wir haben nichts mehr zu verlieren, wenn es so weiter geht. Also können wir jetzt aufs Ganze gehen.“ Das sich Gesellschaften aus Konflikten heraus entwickeln, ist alles andere als neu.
Die individuelle Verantwortung wird aber gerne weggeschoben, auf Politik und Wirtschaft abgewälzt.
Ich glaube, es ist ein wichtiger persönlicher Leitsatz der Aufklärung, sich vor dem Spiegel zu fragen: Wer bin ich und wer werde ich am Lebensabend gewesen sein wollen? Sind wir humane Individuen oder brutale Barbaren? Haben wir die Barbarei, wenn wir so leben wie derzeit, überhaupt überwunden oder sie nur demokratisiert? Vor dieser Frage wegzurennen heißt, immer einen inneren Konflikt mit sich zu tragen. Eine erträgliche Lebensqualität hängt nicht nur davon ab, wie man versorgt ist und ob man unter demokratischen Bedingungen lebt, sondern setzt voraus, mit sich selbst im Reinen zu sein.
Die Mehrheit der Menschen in den modernen Konsumdemokratien muss sich jeden Tag neu belügen, um ein Leben durchzuhalten, das nicht in Einklang mit den eigenen Erkenntnissen und Überzeugungen zu bringen ist. Eine Flugreise zu buchen, für die nicht essentielle Gründe sprechen, ist Barbarei. Punkt.
Warum können wir nicht auf die Technik setzen?
Technologieeinsatz im Ökologieschutz ist nicht pauschal zu verteufeln, führt aber nur zu Lösungen, wenn die Wirtschaft nicht mehr wächst und außerdem verkleinert wird. Die Geschichte kennt praktisch kein Beispiel dafür, dass mit Technologie je ein ökologisches Problem gelöst wurde, wenn die räumliche, zeitliche, systemische und stoffliche Verlagerungswirkung und sonstigen Nebenwirkungen der dabei zum Einsatz gelangten Mittel berücksichtigt werden.
Oftmals werden uns aber politisch und medial technische Lösungen suggeriert.
Je mehr Narrative einer technischen Lösbarkeit ökologischer Defizite präsentiert werden, desto überzeugender ist das Alibi dafür, selbst nichts an der Lebensführung verändern zu müssen. Damit wird jeder Sinn für individuelle Verantwortung zerstört. Beispielhaft dafür ist die sogenannte Energiewende in Deutschland. Die CO2-Emissionen sinken nicht, obwohl jedes Jahr ein neuer Rekord aufgestellt wird, was die Projektierung neuer Wind-, Solar-, Biogaskraftwerke oder geothermischer Anlagen anbelangt. Jede Windkraftanlage benötigt im Durchschnitt zwei Hektar Fläche, aber das wird in den Medien zumeist weggelassen. Stattdessen wird eine Green New Deal-Ideologie verbreitet, auf die sich alle Probleme abwälzen lassen.
Als mögliche wirtschaftliche Lösung: Wie lautet Ihr Konzept einer nicht auf Wachstum ausgelegten Ökonomie?
Die von mir vorgeschlagene Postwachstumsökonomie beruht auf diversen sich ergänzenden Versorgungsformen, um die Wirtschaft zu verkleinern, ohne dass es zu sozialen Verwerfungen kommen muss. Jede Stagnation oder Reduktion des industriellen Outputs bedeutet, dass das Volkseinkommen sinkt, was wiederum Arbeitsplatzverluste bedeuten kann. Um dieses Problem zu lösen, muss die Arbeitszeit prägnant verkürzt und umverteilt werden, langfristig würde das vermutlich auf eine 20-Stunden-Woche hinauslaufen. Die überwiegende Anzahl der Menschen in Mitteleuropa kann sich das locker erlauben – natürlich wird man ein bisschen sparsamer sein müssen. Zudem lassen sich Strategien nutzen, um mit dem geringer gewordenen Realeinkommen auszukommen.
Welche Strategien sind das?
Zunächst liegt das Prinzip der Suffizienz nahe, was hieße, das Leben zu entrümpeln und den ganzen Wohlstandsschrott auszumustern, der nur Geld frisst, Ökosphäre zerstört und unsere Lebensqualität ohnehin nicht steigert, weil wir reizüberflutet und überfordert damit sind, alles auszuschöpfen, was wir kaufen können. Das wäre kein Verzicht, sondern eine Befreiung von Ballast.
Zweitens können wir die freigestellten Zeitressourcen verwenden, um durch eigenständige Instandhaltung, Reparatur und Gemeinschaftsnutzung die nötige Industrieproduktion, um ausreichend versorgt zu sein, zu verringern. Das können wir in Netzwerken und dafür geeigneten Orten tun, unterstützt von Profis. Zusätzlich spart die gemeinschaftliche Nahrungsmittelerzeugung in Gärten oder auf Höfen der solidarischen Landwirtschaft Ressourcen und schont den Geldbeutel. Wer kein eigenes Auto bezahlen muss, weil er es sich mit vier anderen teilt, und seine Jeans doppelt so lange nutzen kann, weil er sie repariert und ähnlich mit dem Notebook und anderen Dingen verfährt, spart viel Geld. Wer so lebt, muss nicht so viel arbeiten. Je weniger entlohnte Arbeit nötig ist, um über die Runden zu kommen, desto kleiner kann die Wirtschaft werden.
Ein Rest von Wirtschaft wird verbleiben…?
Neben Suffizienz, also einer Entrümpelung, und Selbstversorgung braucht es eine regionale Ökonomie, in der kreative Unternehmen nach wie vor marktwirtschaftlich agieren und einen Teil der Produktion übernehmen. Das umfasst die ökologische Landwirtschaft, die professionelle Reparaturwirtschaft, und Gemeinschaftsnutzung sowie handwerklich orientierte Güterproduktion. Der Rest an benötigter Industrie dient dann dazu, einen verkleinerten Güterbestand dadurch zu erhalten, dass nur nachproduziert wird, was nach Ausschöpfung aller Nutzungsdauer verlängernden Maßnahmen doch nicht zu retten war. Selbstverständlich werden diese nachproduzierten Waren nicht identisch sein mit den zu ersetzenden. In die Neuproduktion fließt der zwischenzeitlich stattgefundene Fortschritt ein. Das Vorurteil, eine nicht wachsende, insofern statische Ökonomie sei nicht innovativ oder fortschrittsfeindlich, entpuppt sich als Quatsch.
Welche Schritte braucht es zur Transformation unseres Wirtschaftssystems in eine Postwachstumsökonomie?
Es braucht eine radikale Veränderung unseres Bildungssystems. Jungen Menschen muss ökologische Verantwortung für das 21. Jahrhundert vermittelt werden – in Theorie und vor allem in Praxis. Junge Menschen sollten außerdem wieder lernen, handwerklich fähig zu sein, selbst essen zu kochen, im Garten zu arbeiten und sesshaft zu leben. Ihnen muss vermittelt werden, dass Kreuzfahrten, Flugreisen und die Nutzung von Autos absolut unverträglich damit sind, überhaupt noch eine Chance zu haben, überlebensfähig zu sein. Die Politik sollte sich an individuellen CO2– und Ökobilanzen orientieren. Eine darauf gründende Lebensstilpolitik müsste darauf ausgerichtet sein, was Menschen brauchen, um langfristig mit einer Tonne CO2 pro Jahr gut über die Runden zu kommen. Das setzt Rückbauprogramme voraus, heißt also weniger Autobahnen, weniger Flughäfen, weniger Industrieproduktion, weniger Agrarindustrie, weniger Digitalisierung und so fort.
Haben Sie eine Vision eines doch auch glücklichen Lebens für Menschen, die jetzt 20 Jahre alt sind?
Die noch immer bestehende Überlebenschance speist sich aus dem Druck, den Krisen ausüben, und das ist ja nicht einfach nur ein materieller oder finanzieller Druck, sondern auch ein psychologischer. Mit jeder weiteren Krise nimmt die Anzahl der Menschen zu, die nicht mehr an eine Fortsetzbarkeit der aktuellen Lebensweise glauben. Ein anderer Hoffnungsschimmer besteht darin, dass immer mehr Aktivistinnen und Aktivisten in Erscheinung treten, insbesondere junge Menschen, die durch Protestaktionen die klimaschädigende Daseinsform delegitimieren. Noch wichtiger wäre allerdings, dass immer Vorbilder und vorgelebte Beispiele für ein ökologisch verantwortbares Dasein in die Gesellschaft hineinwirken.
Kann man Menschen langsam wieder an Werte wie Genügsamkeit gewöhnen oder braucht es vielmehr einen brutalen politischen Schnitt?
Es wird keine politische Lösung geben können, gerade weil wir demokratisch agieren. Das ist keine Kritik an der Demokratie, sondern am ethischen Versagen. Wir erleben seit 50 Jahren, dass demokratische Regierungen hinsichtlich der Notwendigkeit, Lebensgrundlagen zu erhalten, zu nichts fähig sind. In Deutschland haben wir eine Regierung, die regelrecht versucht, Feuer mit Benzin zu löschen. Im Namen des Klimaschutzes werden technologische Monstren in die Landschaft gesetzt, die wenig bewirken, gleichzeitig sollen pro Jahr 400.000 neue Wohnungen entstehen, obwohl der behauptete Wohnraummangel ein Luxusproblem ist. Die Politik wird das Problem nicht lösen, weil die Mehrheit der Gesellschaft sie dafür nicht wählt, weil es Wohlstand kosten würde.
Wer tut es dann?
Es sind harte gesellschaftliche Konflikte zu erwarten. Zunehmende Teile der Gesellschaft sind nicht mehr einverstanden mit einer ökologischen Verantwortungslosigkeit, die ihresgleichen sucht. Interessanterweise besteht in modernen Gesellschaften beinahe ein Konsens über die Notwendigkeit, das Klima und die Biodiversität zu schützen. Nun zu fordern, dass dies konsequent, um nicht zu sagen hinreichend radikal umzusetzen ist, würde der Mehrheit keine Minderheitenmeinung aufzwängen, sondern sie daran erinnern, was sie jeden Tag selbst rausposaunt. Der Widerstand gegen die Zerstörung, den wachsende soziale Bewegungen artikulieren, deckt also nur eine kolossale Heuchelei auf.
Zur Person:
Niko Paech (62 Jahre) lehrt und forscht an der Universität Siegen als außerplanmäßiger Professor im Bereich der Pluralen Ökonomik – einer aktiven Bewegung von Lehrenden und Studierenden der Wirtschaftswissenschaften, die sich den klassischen wirtschaftlichen Theorien widersetzen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen unter anderem im Bereich der Umweltökonomie, der Ökologischen Ökonomie und der Nachhaltigkeitsforschung. Paech hat in Deutschland den Begriff der „Postwachstumsökonomie“ geprägt und gilt als vehementer Verfechter der Wachstumskritik.