12 Die Farbe der Goldmelisse
Ein achtsamer Moment im Freien
Die Tage schleppten sich zähflüssig dahin – etwa so wie klebrig-stickige „Heißfeuchtigkeit“ („Luft“ konnte man das nicht mehr nennen). Die Welt hielt mir den Spiegel vor, sagte heftig nickend, wie wichtig der Bodenfeuchtigkeit-Monitoring-Bericht war. Dies wohlwissend kämpfte ich mich stunden- und tagelang vor dem Bildschirm ab, die richtigen Worte für die erhobenen und analysierten Daten zu finden.
Schließlich war der Bericht fertig und gut, ich dagegen fertig und völlig fertig. Ich brauchte eine Pause, die längst überfällig war. Das sagte ich auch Sven, als er abends nach Hause kam. „Nimm dir morgen doch frei“, entgegnete er.
„Morgen? Morgen ist Mittwoch.“
„Na und? Du brauchst jetzt eine Pause.“ Sven blickte mich entschlossen an. Er hatte recht.
Ich zog in Erwägung, nach Innsbruck zum botanischen Garten zu fahren und Yvonne zu besuchen. Doch ich wollte sie nicht überfallen und auch nicht ganz so spontan aufbrechen. Mit den Jahren hatte ich gelernt, dass der Ansatz, alles immer möglichst rasch erledigen zu wollen beruflich zwar meist sehr begrüßt wurde, bei privaten Fragen aber nicht unbedingt immer zur richtigen Entscheidung führte.
Der nächste Tag begann wolkenverhangen. In der Nacht hatte es heftig gestürmt. Eigentlich hatte ich mit Remus den Hausberg der Stadt über einen alten, wenig begangenen schmalen Wurzelpfad hochgehen wollen, aber nach den Regenschauern würde der zu rutschig sein. So fiel der morgendliche Spaziergang kurz aus, es war 8 Uhr und bereits schwül, und wir, Remus und ich, bestaunten im Stadtzentrum lediglich riesige bepflanzte Tontöpfe, die nachts vom Sturm erfasst und umgehauen worden waren (ich bestaunte, dass die Tongefäße intakt geblieben waren, Remus mehr, was er da anpinkeln konnte, aber ich zog ihn schnell weiter). Zuhause überkam mich schnell jenes häufige Engegefühl, das ich mit meiner digitalen Online-Home-Office-Arbeitslebensweise verknüpfte. So toll es war, für ein internationales Forschungsinstitut „remote“ arbeiten zu dürfen, alles hatte seinen Preis, insbesondere wenn der Platz für ein separates Büro fehlte und der provisorische Schreibtisch zentral zwischen Sofa, Esstisch und Eingangstür positioniert und prädestiniert dafür war, jede unbedachte Aufmerksamkeit einzusammeln und auf sich zu ziehen.
Ich suchte Zuflucht im Garten, setzte mich auf unsere Holzbank, die wir unter dem grenznahen Walnussbaum des Nachbarn im hinteren Teil des Gartens gestellt hatten. Remus blieb in der Wohnung, es war ihm schon zu heiß draußen. Unser eher kleiner Garten war recht divers – soweit es uns möglich war, hatten wir auf eine heimische Artenvielfalt und Naturnähe gesetzt. Am typischen Wohnblock-Metallgitterzaun kletterte Efeu hoch, als Sträucher bzw. kleine Bäume oder „Trees-to-be“ wuchsen Hasel, Flieder, Felsenbirne, Sanddorn, Pfaffenhütchen, Hainbuche, Zwergmirabelle, Himbeeren und ein Apfelbaum. Da die meisten der Pflanzen noch klein waren bzw. bei den größeren die Blüte schon (lange) vorbei war und die Blumenwiese im zweiten Jahr vom Gras überwachsen worden war, zeigte sich unser grüner Fleck ziemlich buchstäblich in Grün. Mit verschiedenen Grüntönen natürlich, aber doch recht eintönig, was die Farbenpracht anging. Mein Blick fiel auf das schmale Holz-Beet hinter den beiden Himbeeren, das Sven diesen Frühling angefertigt hatte. Zwischen den vielen Himbeerblättern lugte ein kräftiger Rotton hervor.
Ich ging hin. Es war die Goldmelisse. In den letzten arbeitsintensiven Wochen hatte ich nicht bemerkt, wie sich die Blüte entwickelt und entfaltet hatte. Die scharlachroten Lippenblüten (nicht umsonst sagte man zur Goldmelisse auch „Scharlach-Monarde“) sahen von fern wie ein wuscheliger Haarschopf aus, doch von nah betrachtet war es elegant, wie jede einzelne von ihnen spitz nach außen zulief, während sie innen zusammenkamen. Der Aufbau, erinnerte ich mich plötzlich aus längst vergangenen Studienzeiten, sah radialsymmetrisch aus. Sternförmig. Auch wenn das nicht ganz stimmte, waren die einzelnen Blüten als Lippenblüten ja zweiseitig symmetrisch. Doch von oben darauf geblickt sahen sie einfach im Kreis angeordnet aus. In anderen Worten: schlicht. Simpel. Doch im Kontrast zu komplexeren Blüten, wie etwa von den beliebten Orchideen, entsprang die Schönheit der Goldmelissenblütenpracht nicht der Einzigartigkeit einer Symmetrie jeder einzelnen Blüte, sondern aus der Einbettung zahlreicher Einzelblüten, die zusammen den Blütenstand ergaben, den der Laie gesamthaft als Blüte bezeichnete.
Zusammen, dachte ich, ergeben wir das Ganze.
Und das kann sehr schön sein.
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