Sokrates und Pascal in Trendistan
Sokrates und Pascal in Trendistan
ein Märchen von Roland Manzl
In Trendistan lebten vor nicht allzulanger Zeit Thea und Theo, die berühmteste Frau und der reichste Mann des ganzen Landes. Tag für Tag waren sie mit all ihrer Kraft damit beschäftigt, noch angesehener und noch reicher zu werden. Alle Einwohner eiferten den beiden nach, ihr größter Wunsch war es, irgendwann ebenso beliebt und wohlhabend zu sein. Eines Tages luden Thea und Theo die Bürger zu einer Megaveranstaltung im Stadion der Hauptstadt ein, es sollte die spektakulärste werden, die das Land je gesehen hatte. Schon Tage zuvor wurde in allen Medien von nichts anderem berichtet, denn die alten Philosophen Sokrates und Pascal hatten zugesagt, bei diesem außerordentlichen Event zu erscheinen.
Das Stadion war zum Bersten voll, alle Unglücklichen, die keinen Platz ergattert hatten, waren zuhause live dabei. Das Blitzlichtgewitter war gigantisch, als Sokrates und Pascal die Bühne betraten. Nur die ohrenbetäubenden Fanfaren aus den Stadionlautsprechern konnten das Jubeln der tobenden Menge übertönen. Die allseits bekannten Stimmen von Thea und Theo überschlugen sich regelrecht, als sie die beiden Philosophen begrüßten. Auf der Bühne stand mit goldenem Stoff verhüllt der Hauptpreis, der beim Programmpunkt „Sokrates zieht Mega-Los“ an einen glücklichen Gewinner aus dem Publikum verlost werden sollte. Als ein Kanonenschuss abgefeuert wurde, fiel die Hülle zu Boden und ein Sportflugzeug kam zum Vorschein. Die Zuseher waren nun völlig aus dem Häuschen, sodass Theo ins Mikrofon brüllen musste, um sich Gehör zu verschaffen:
„Lieber Sokrates!“ Ein Konfettiregen mit bunten Girlanden ging auf die beiden nieder, als Theo ihn mit einer einladenden Handbewegung aufforderte, auf dem rechten Thron Platz zu nehmen. „Sie sind vor 2.500 Jahren mit ihrer Fragerei und den endlosen Diskussionen den wohlhabenden Athenern gewaltig auf die Nerven gegangen.“ Schallendes Gelächter im Publikum.
„Was hatten Sie den Menschen in Athen damals zu sagen und was sagen Sie uns heute?“
Nachdem sich Sokrates, der mit einem grauen Philosophenmantel bekleidet war, auf dem Thron niedergelassen hatte, flog plötzlich eine graue Nebelkrähe vor der Bühne vorbei zum Flugzeug, um auf der rechten Tragfläche zu landen. Sokrates wandte seinen Blick dorthin und zeigte mit ausgestrecktem Zeigefinger auf die Nebelkrähe. In diesem Moment begann diese so laut zu kreischen, dass alle im Stadion augenblicklich verstummten und sich die Ohren zuhielten. Erst als es ganz still war, wollte sich der Vogel beruhigen. Nun antwortete Sokrates:
„Vor 2.500 Jahren sagte ich in Athen: Wie zahlreich sind doch die Dinge, derer ich nicht bedarf!* Heute sage ich ganz genau dasselbe und ergänze: Wie zahlreich sind doch die sinnlosen Waren und unnützen Dienstleistungen, derer ich nicht bedarf. Wie groß sind die Mühen, diese anzufertigen und zu erwerben, wie gering wären die Mühen, sie nicht zu begehren und dennoch zufrieden zu sein.“
Nun wollte Theo weitere Fragen stellen, er wurde jedoch jedes Mal vom grässlichen Kreischen der Nebelkrähe übertönt. So blieb ihm in seiner Verzweiflung nichts anderes übrig, als mit hektischen Handbewegungen das Wort an Thea zu übergeben, die gekünstelt euphorisch mit Pascal auf der Bühne erschien. Pascals schwarze Weste und die schwarze Pumphose wurden fast zur Gänze von einem schwarzen Umhang verdeckt. Thea begleitete ihn tanzend zum linken Thron und posierte theatralisch neben ihm, um im Blitzlichtgewitter möglichst medienwirksam abgelichtet zu werden. Sie schrie ins Mikrofon:
„Lieber Blaise Pascal! Vor 400 Jahren sagten Sie, es wäre am besten, wenn die Menschen zuhause herumsitzen würden.“ Lautes Gelächter im Publikum. „Dann könnten wir alle dieses Spektakel nicht miterleben! Was sagen Sie heute dazu?“
Pascals Blick folgte einem schwarzen Raben, der in diesem Moment auf die Bühne flog und ganz aufgeregt vor Thea herumflatterte. Diese begann aus Angst vor dem Vogel wild um sich zu schlagen, ruinierte dabei ihre Frisur und schrie panisch:
„Aufhören! Keine Fotos! Sofort aufhören!“
Bald war kein einziges Blitzlicht mehr zu sehen, sodass sich der Rabe beruhigte und auf die linke Tragfläche des Flugzeugs flog. Als Thea hektisch damit beschäftigt war, ihre Frisur wieder in Ordnung zu bringen, begann Pascal:
„Ich habe vor 400 Jahren gesagt: Alles Unglück in der Welt kommt daher, dass man nicht versteht, ruhig in einem Zimmer zu sein.* Heute sage ich ganz genau dasselbe und ergänze: Mit sich selbst zufrieden zu sein, ohne das Verlangen, ständig von anderen bewundert zu werden, ist das, wonach wir streben sollten. Sodann muss der Mensch nicht mehr von einer Zerstreuung zur nächsten hetzen, sondern kann sich um seine wahren existenziellen Anliegen kümmern.“
Immer wenn einzelne Stimmen hörbar oder Blitzlichter sichtbar wurden, begannen die Nebelkrähe und der Rabe fürchterlich zu kreischen, bis schließlich alle Besucher nach Hause gingen. Auch Sokrates und Pascal waren verschwunden, nun saß die graue Nebelkrähe auf der Lehne des rechten und der schwarze Rabe auf der Lehne des linken Throns.
So waren Thea und Theo ganz alleine im riesigen Stadion, in dem vollkommene Ruhe eingekehrt war. Die beiden setzten sich wortlos ins Flugzeug und starrten in die leeren Zuschauerränge. Kurz darauf spazierten die Nebelkrähe und der Rabe zu Thea und Theo ins Cockpit, legten sich auf deren Schoß und schliefen dort seelenruhig ein. Zum ersten Mal erlebten Thea und Theo eine absolute Stille. Sie konnten es sich nicht erklären, aber plötzlich fühlten sie sich so leicht, als könnten sie von allen Zwängen befreit mit dem Flugzeug abheben und in eine freie Welt hinausfliegen. Dieses wundersame Gefühl versetzte sie in einen wohligen Dämmerzustand, bis sie schließlich in einen tiefen, erholsamen Schlaf fielen.
Seither hat sich in Trendistan alles verändert. Das Flugzeug, das niemand mehr haben wollte, steht immer noch als Erinnerung an jenen denkwürdigen Tag im Stadion. Ob Thea und Theo mit ihrem Einfluss und Reichtum geholfen haben, Trendistan in ein Land der Ruhe und Zufriedenheit zu verwandeln, ist bis zum heutigen Tage rätselhaft. Die Menschen aus Trendistan verbringen ihre Zeit meist in den Wäldern, zusammen mit den Pflanzen und Tieren. Die Glücklichsten unter ihnen treffen manchmal ganz tief im Wald Thea und Theo, deren größte Sehnsucht es ist, der grauen Nebelkrähe und dem schwarzen Raben noch einmal zu begegnen.
* Wilhelm Weischedel, Die philosophische Hintertreppe, S. 40 u. S. 176, 1966-2023 Langen Müller Verlag

Zur Person:
Roland Manzl, geboren und aufgewachsen in Dornbirn/Vorarlberg. Nach dem Lehramtsstudium in Feldkirch unterrichtete er für mehr als 30 Jahre an einer Mittelschule im Bregenzerwald. Seit 2016 verfasst er Texte, in denen er den paradox lebenden Menschen hinterfragt, der durch sein materialistisches, narzistisches Handeln sich selbst und dem gesamten Planeten einen Bärendienst erweist.
In seinem ersten Buch „Noch drei Tage“ erfährt der Leser aus der Perspektive einer alten Holzbank in den Dornbirner Achauen, wovon die Zufriedenheit und das Glück der Menschen, die die Bank besucht haben, abhängig war. Die Holzbank blickt auf ihr Leben zurück und erzählt von den bewegendsten Momenten ihres Daseins.
Ein steinreicher Investmentbanker aus der Schweiz findet in „Notausgang zum Glück“ erst in einem kleinen Bregenzerwälder Dorf auf spektakuläre Art und Weise sein Glück, nachdem er sich von seinem Zwang, immer noch reicher zu werden, befreit hatte. In seinen Büchern und Kurzgeschichten verlassen wir manchmal unsere bequeme eigene Welt und nehmen neue Perspektiven ein, um einen Gedankensprung auf das Große und Ganze zu wagen.