2 Fahrt ins Tal
Kehrend durch den Bus
Bergab gab ich mein Bestes, neben Remus herzurennen. Es war ein schönes Gefühl, gemeinsam, sich über die Artgrenze hinaus verbindend, die Schneehänge hinunter zu „fliegen“. Freisein, Lebendigkeit. Natürlich ging mir bald die Puste aus, selbst bergab, aber Remus hatte großen Spaß und ich auch.
An der Bushaltestelle angekommen, warteten wir fünfzehn Minuten in der Sonne. Im Arbeitsstress hätte mich das Warten genervt, die Zeit als verschwendet gereut. Doch es war mein letzter freier Tag und ich fand es eigentlich ganz angenehm mit den wärmenden Strahlen auf den Wangen. Selbst mit den gelegentlich vorbeifahrenden Autos konnte ich mich arrangieren, während Remus weiter den Schnee durchsuchte. Viel war’s hier unten ja nicht.
Remus und ich waren die einzigen Fahrgäste, die am Pass einstiegen. Zwei Passagiere stiegen aus, uns den ganzen Bus hinterlassend, wirkte dieser nun deutlich überdimensioniert. Wie ein Relikt aus früheren Zeiten.
Der Fahrer hatte seinen Lenkerposten verlassen (der Bus stand still) und arbeitete sich zwischen den Sitzen kehrend zur Mitte, wo wir noch uns orientierend standen, vor. Auf Remus blickend sagte er: „Den Korb da braucht er nicht unbedingt.“ Er meinte den Maulkorb. Ich war etwas überrascht. Der Busfahrer, ein Mann, der den grauen, kurzen Haaren und dem Gesicht nach auf die 50 zuging, aber schlank und sportlich aussah, bemerkte trocken: „Nachdem es im Bus nicht voll ist, wird er wohl niemanden auffressen.“ Er lächelte, gar nicht so breit, irgendwie zwinkernd, aber jedenfalls freundlich, und ging weiter kehrend durch den Bus. Erfreut löste ich Remus‘ Maulkorb; Remus hielt bereitwillig seinen Kopf her, um davon befreit zu werden. Ich suchte uns einen Platz, doch nachdem der Busfahrer in seinem sympathischen Dialekt die Unterhaltung auf seinem Rückweg durch den Bus zum Lenkerposten wieder aufsuchte, folgte ich ihm kurzerhand, Remus hinterher, und setzte mich in die erste Sitzbankreihe neben den Fahrer. Remus blieb im Gang zwischen dem Fahrer und mir liegen, aber es schien diesen nicht zu stören. So ließ ich ihn.
Gespräche mit Busfahren oder überhaupt anderen Menschen, denen man im öffentlichen Raum begegnete, kamen selten zustande. Weniger weil die Stadt so groß und anonym gewesen wäre, mehr weil ein jeder zu einem Einzelgänger geworden war. Das Widersprüchliche daran war, dass wir dabei nah beieinander lebten. Einzelgänger im Rudel…
Das würde bei Wölfen nicht funktionieren.
Auf diese kamen wir über Umwege bald zu sprechen. Zuerst stellten wir die ungewöhnlich miese, weil kaum vorhandene Schneelage fest. „Ich habe beim Skitouren noch nie Bergkämme zu dieser Jahreszeit in diesem Zustand gesehen“, sagte der Busfahrer, während er auf kurvigen Straßen das Gefährt mit uns ins Tal führte. Bald darauf begann er von seinen mehrwöchigen Aufenthalten im abgelegenen Schweden mit Schlittenhunden zu erzählen. Ich ergriff die Gelegenheit, mich mit jemandem über das Buch zur Rückkehr der Wölfe zu unterhalten, das ich gerade fertig gelesen hatte, und lenkte das Thema in diese Richtung. Der Autor und inzwischen emeritierte Professor, Kurt Kotrschal, war kein anderer als der Verhaltensbiologie, der Konrad Lorenz nachfolgte und das Wolf Science Center in Niederösterreich mitbegründete.
Die Busfahrt war zu kurz, um in die Tiefe zu gehen, doch wir streiften die ökologische Bedeutung für den Wald (durch die Präsenz von Wölfen wird nicht nur die viel zu hohe Bestandsdichte von Wild, insbesondere Rehen, reguliert, das Wild muss außerdem mehr in Bewegung bleiben – beides führt zu reduziertem Verbiss an jungen Bäumen) und die Mentalität, hier im reichen Europa alles für uns beanspruchen zu wollen, während wir andernorts forderten, Regenwälder mit den dort heimischen Pflanzen- und Tierarten zu schützen.
„Es gibt wenig Platz hier“, entgegnete der Busfahrer. „Darum zieht es Leute wie mich nach Schweden. Aber es ist immer das gleiche“, seufzte er weiter, „du willst in die Ruhe der Natur, diese genießen und mit ihr leben, aber arbeiten musst du trotzdem. Darum mache ich es so, dass ich zehn Monate arbeite und zwei Monate weg bin. Danach kann ich die Leute wieder aushalten.“ Er setzte den Blinker und lenkte zur Bushaltestelle am Straßenrand in wenigen Metern Entfernung. Eine Frau stieg vorne ein, um ihn etwas zu fragen (ich gebot Remus, schnell auf die Stufe der Sitzbankreihe zu kommen, um Platz zu machen).
„Das nächste Mal zeige ich dir Bilder von Schweden. Falls du öfter hier fährst?“
„Oh“, seufzte ich, „morgen beginnt meine neue Arbeit. Das wird werktags dann schwieriger.“
Wir schwiegen ein bisschen, bei der nächsten Bushaltestelle musste ich aussteigen.
„Es hat mich sehr gefreut.“
Das hatte es wirklich.
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