21 Am Weiher
Am Weiher
„Ich kann nicht mehr.“
„Doch, du kannst.“
„Ich bin müde.“
„Du bist stark.“
„Ich habe keine Kraft mehr.“
„Du musst die Kraft finden.“
Das Gesicht meiner Schwester blieb regungslos. Ein Moment verging. Noch einer. Im Raum blieb auch die Luft regungslos, stand schwer und still zwischen den Wänden.
„Lass uns raus gehen“, sagte ich schließlich. Anna verzog kaum merklich das Gesicht; sie sah mich weiterhin nicht an, sondern starrte leer gegen die Wand. Ich beugte mich vor und berührte sie kräftig an der Schulter.
„Ich will nicht.“
„Komm jetzt.“ Ich stand auf, hielt dabei aber den Kontakt und nahm sie zusätzlich an der anderen Hand. Anna wandte ihr Gesicht nun zu mir. Wir sahen uns direkt in die Augen.
„Ich bin nicht wie du“, flüsterte sie. Ihre Augen glänzten von Tränenflüssigkeit. Unwillkürlich ließ ich ihre Schulter los, nicht aber ihre Hand. Kurz schluckte ich. Zögerte.
„Meinst du denn, ich bin nie müde, Anna?“, wisperte ich zurück.
„Du zeigst es mal nicht.“
„Ja“, seufzte ich, „wir Menschen sind gut im Verbergen.“
Nichts weiter, Anna starrte wieder in die Luft, wie eine Hülle ohne Leben. Wieder stieß ich hörbar die Luft aus. „Mein liebes Schwesterlein, glaub mir, ich bin oft genug nah am Ende meiner Kräfte, genau wie du jetzt. Doch Aufgeben ist keine Option. Du musst aufstehen. Steh‘ jetzt bitte auf und lass uns nach draußen gehen, ins Freie.“
Anna blickte mich fraglich an. „Wohin denn?“
„In den Wald.“
„Und was soll dort anders sein?“
„Abgesehen von der guten Luft lässt es sich dort besser aufstehen.“
Sie zweifelte an der Idee, darum setzte ich nach: „Ich spreche aus Erfahrung.“
Nicht nur Anna war müde. Wir waren es alle. Die jungen Aktivisten, die besonnen Alten, die nüchternen Intellektuellen, die romantischen Naturliebhaber. Doch sie in ihrer führenden Position am Europäischen Gerichtshof mit ihrem Fokus auf Klimagesetzen und ihrem ehrenamtlichen Engagement für Kinder in Klima-Flüchtlingslagern war es besonders.
Wir zogen schweigend unsere Schuhe an und traten vor die Tür. Die Luft war unangenehm schwül, klebrig, staubig; der Straßenverkehr war deutlich zu hören. Um die Ecke hielt die Linie 407, wir mussten nur wenige Minuten auf den nächsten Bus warten. Anna folgte mir wort- und blicklos, schaute während der Fahrt nicht einmal aus dem Fenster. Bei der Haltestelle „Waldgarten“ stiegen wir aus.
„Hier?“, fragte Anna. Das erste Wort, seit wir uns auf den Weg gemacht hatten.
Hier, das war jener Stadtteil, in dem wir aufgewachsen waren. Sie war stehen geblieben, ihre Augen waren plötzlich groß. Ich nickte.
„Das soll mich aufheitern?“
„Kraft findet sich nicht nur in der Freude.“ Pause. „Außerdem ist es ja nicht so, als gäbe es keine freudvollen Erinnerungen.“
Meine Schwester und ich sitzen am Tisch, ein großer Esstisch aus massivem Buchenholz. An den Wänden hängen, sich abwechselnd, eingerahmte Naturfotografien von majestätischen Gletschern und bemoosten Wäldern. Der Glaziologe und die Försterin. Unsere Eltern.
„Es ist ewig her, dass ich hier gewesen bin“, sagte Anna etwas verwundert über diese Tatsache. Sie schloss nun zu mir auf und wir bogen in eine schmale Seitengasse, die zu Beginn noch asphaltiert, bald aber gepflastert war. Das Gras zwischen den Pflastersteinen wirkte wie ein Wegweiser in die Natur. Der „Waldgarten“ gehörte zum botanisch-forstlichen Institut der Universität; eine grüne Oase am Rande der Stadt, zugleich ein Schutz- und Ruheschild zur dahinterliegenden Industriezone. Einer der besten Plätze für heranwachsende Stadtkinder.
Am Ende der Gasse markierte ein von Efeu überwachsener Torbogen den Eintritt zum Waldgarten. Diesen Seiteneintritt hatten wir stets mit dem Gefühl benutzt, den Waldgarten von einer anderen, geheimnisvolleren Seite zu kennen. Nun traten wir mit dem Gefühl hindurch, in die Vergangenheit zu reisen, um in die Zukunft weitergehen zu können. Der von Baumwurzeln durchwachsene Boden dämpfte unsere Schritte. Das Buchenblattwerk über und um uns war so dicht, dass kaum ein direkter Sonnenstrahl unsere Gesichter erreichte. Die Luft war tatsächlich merklich besser, kühler, frischer. Ich wies Anna darauf hin. Sie schwieg beharrlich. Der Pfad führte an einem kleinen Weiher vorbei. Die Blätter der Büsche und Bäume rundherum waren dank des Wasserkörpers noch von sattem Grün. Im Wasser schwammen vier Stockenten, zwei Weibchen und zwei Erpel. Sie zogen eine Wasserspur hinter sich her, die nach wenigen Sekunden immer schwächer wurde.
Zeit – die Konstante der Veränderung.
Es ist Sommer. Anna und ich, etwa 10 und 13 Jahre alt, am Ufer. Ich sitze auf einem größeren Steinblock und bastle aus Gras einen Korb. Anna springt voll Freude hin und her, erzählt mir und sich selbst eine Fantasiegeschichte. Sie hält inne, hebt einen Stein hoch und wirft ihn flach ins Wasser. Es ploppt leise und der Stein sinkt zu Boden. Frustriert kickt sie gegen den Steinblock, auf dem ich sitze, und schimpft laut über den Schmerz in ihrem Zeh. „Es ist leichter, wenn der Stein flach ist“, sage ich, greife nach einem flachen Stein neben uns und werfe ihn ins Wasser. Der Stein berührt drei Mal die Wasseroberfläche, bevor er sinkt.
„Anna, du hast allen Grund, müde zu sein und aufgeben zu wollen. Doch bitte bedenke, was ist die Alternative? Was würdest du dann tun?“
„Ich weiß es nicht. Weggehen vielleicht.“
„Und wohin?“
„Nichts.“
„Nichts – was?“
„Ich würde nichts tun.“
Ich betrachtete sie von der Seite, musterte ihr Profil. Sie war mager geworden, schmal im Gesicht. Ich glaubte ihr nicht, sagte aber nichts. Wir standen am Ufer des Weihers. Eine Ente quakte laut auf, wir sahen, wie eine andere ihr nachjagte. So verharrten wir eine Weile. Dann bückte sich Anna und hob einen flachen Stein auf. Sie schleuderte ihn gekonnt im richtigen Winkel zur Wasseroberfläche, sodass der Stein vier Mal darüber tanzte. Ich hörte, wie sie tief Luft nahm.
„Die Luft ist gut hier“, sagte meine Schwester und atmete hörbar aus. Sie sah mich an und lächelte ein wenig.