10 Dehesa
Der langsame Tod der Eichensavanne
Zeit zum Nachdenken war gefährlich. Zumindest für das Verharren in gedanklichen Illusionsgerüsten. Ich saß im Zug auf der Rückreise vom Westen Spaniens zurück nach Österreich. Dreißig Stunden Reisezeit – viel Zeit zum Nachdenken.
Hatte die Konferenz wirklich etwas bewirkt? Schafften die Forschungsprojekte den Wandel, den die Welt brauchte? Oder waren Treffen dieser Art, ob von Wissenschaftlern, Politikern oder NGOs, doch vor allem eines: ein Mittel, sich zu sagen „Es geht voran“. „Wir tun etwas“.
Der Boden war trocken und hart. Das Gras tot. Im Mai. Die Kronen der Kork- und Steineichen bildeten die einzigen grünen Farbtupfer in der Landschaft. Diese Eichen-Baumsavannen nannte man in Spanien Dehesa, in Portugal Montado. Dehesa kam vom lateinischen „defensa“, was so viel wie „Verbot“ oder „‚Absperrung“ hieß. Die Bezeichnung rührte von den beweideten Eichenhainen des Mittelalters, die gewöhnlich eingezäunt waren und als traditionell als Gemeinschaftsbesitz bewirtschaftet worden waren. Noch heute befinden sich diese Ländereien oft im Eigentum der Gemeinde.
Doch die Dehesa starb. Es war ein langsamer Tod, doch er war unaufhaltsam. Weit und breit suchte man vergeblich nach jungen Bäumen. Landstriche mit Baumgreisen, beinahe uniform im Alter. Ohne Nachkommen. Der lokale Gastgeber der Agroforstkonferenz, ein Professor aus Plasencia, hatte beim Abendessen erklärt, dass die Baumdichte der Dehesa abnehme. Starb ein Baum, kam kein neuer, was zu einer allmählichen Ausdünnung, die sich vielleicht über ein Jahrhundert vollziehen wird, führte. Würde eine Wüste zurückbleiben? Oder könnte es zu einer Verbuschung kommen, da, wo der Boden zumindest zeitweise feucht genug für die Keimung und das Wachstum von pflanzlichem Leben war – in den hügeligen, bergigen Gegenden und an deren Ausläufern? Und der Rest? Eine Wüste in Europa?
Auf der anderen Seite des Durchgangs im Zugwagon saß eine vierköpfige spanische Familie inklusive Großeltern. Die beiden Mädchen, etwa acht und zehn Jahre alt, kreischten laut und fast ununterbrochen und rissen mich kurz aus meinen Gedanken. Das ältere der Mädchen hatte eine bunte Augenbinde über einem Auge, die zu ihrer restlichen ebenso bunten, überwiegend pinken und glitzernden Kleidung passte. Ihre kleine Schwester, ebenfalls recht schrill gekleidet, war auf den Vordersitz geklettert und hielt, zu ihrer Schwester gewandt, die Videokamera eines Tablets auf sie. Sie zählte enthusiastisch von drei herunter und los ging die Aufnahme. Meine bescheidene Spanischkenntnisse reichten nicht aus, um den schnell aus dem Mädchen heraussprudelnden Sätzen zu folgen, allein den Schluss verstand sie: „Wenn euch das Video gefallen hat, hinterlässt mir einen Like.“
Die Gründe für die fehlende Regeneration der Dehesa waren vielfältig: Trockenheit, Managementfehler mit zu intensiver Beweidung, Bodenerosion, Wildverbiss. Es gab, vereinzelt, Versuche, natürlich aufkommende oder gepflanzte Jungbäume einzuzäunen. Doch die Trockenheit war lebensfeindlich. Und auf hunderttausenden Hektaren einzelne Bäume zu schützen, ein riesiges Unterfangen, für das es an Ressourcen und wohl auch am Interesse mangelte.
Städter, das waren die Menschen geworden. In der Stadt gab es alles: Einhorn-T-Shirts, Turnschuhe, die beim Auftreten rot oder grün aufleuchteten, Gummispielfiguren, die an den Wänden haften blieben, wenn man sie an diese warf, Wasserfontänen an Marktplätzen, Essen, so viel man sich vorstellen konnte.
Wen interessierten irgendwelche Eichen, kilometerweit von der Stadt entfernt? Wer von ihnen war je wirklich durch eine Dehesa gelaufen, an einem heißen Sommertag? Wer hatte den sofort spürbaren kühlenden Effekt auf seiner Haut, an seinem eigenen Körper gespürt, wenn man von der Ausgesetztheit der Sonne in den Schatten einer Eiche trat? Wer hatte bemerkt, dass die Vegetation unmittelbar unter den Eichen eine andere war als in den Bereichen, die nicht unter dem Einfluss der Baumkrone standen? In der Stadt sah man die Trockenheit nicht. Asphalt war Asphalt. Im Gegenteil, bei Regen flüchteten die Menschen in ihre Behausungen; erst bei Sonnenschein wimmelte es in den Straßen Madrid nicht nur von Autos, sondern auch von Fußgängern. Von Städtern.
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