4 Entfremdet mit dem Rest der Natur
Der Bildschirm kennt mein Gesicht
Zurück in der Kleinstadt, zeigte sich die Welt idyllisch. Einige Gärten schmückten sich mit einem regelrechten Teppich aus gelben und violetten Primeln. Zu den Schneeglöckchen hatten sich längst Narzissen, Hyazinthen und die ersten Tulpen gesellt. Vögel aller Gesangsarten zwitscherten morgens und abends, in jenen frühen beziehungsweise späten Stunden, in denen der Verkehrslärm sich noch in Grenzen hielt oder schon wieder versiegte.
Anders als in großen Städten, verblieb hier ein Rest von Natur; ein Zusammenleben mit ihr.
Den Löwenanteil meiner Zeit im Homeoffice verbringend – mit häufigen Blicken in den Garten, umrahmt von Spaziergängen in Berg- und Waldnähe –, blieb mir die Natur beziehungsweise ihr verbleibender Rest immer nah. Sie war auch der Grund gewesen, die Großstädte meiner Studienzeit zu verlassen und zurück in die „Provinz“ zu kommen.
Meine Zeit in einer dieser Großstädte war mir besonders in Erinnerung geblieben. Am Ende meines dreimonatigen Aufenthalts in Paris fühlte ich mich wie eine Pflanze am falschen Standort, dazu verdammt, in den grauen Gassen und in der drückenden Dunkelheit der Beton- und Asphaltlastigkeit menschengebauter Straßen und Gebäude einzugehen. Ich erinnerte mich genau, wie ich an meinen freien Tagen aktiv Parks mit Grünflächen und Bäumen aufsuchte, um Leben(digkeit) wahrzunehmen und aufzusaugen.
Diesen ausgeprägten Sinn für eine natürliche, lebensfreundliche Umgebung haben nicht alle Menschen. Der Mensch als Spezies ist sehr anpassungsfähig und gewöhnt sich an (fast) alles, solange es im noch tolerierbaren Rahmen bleibt. Wer im 21. Jahrhundert in einer Stadt aufwächst, ist es gewohnt, sich den überwiegenden Teil seiner Lebenszeit in geschlossenen, beheizten (oder klimatisierten) Räumen aufzuhalten und in regem Kontakt und Gebrauch elektronischer Geräte zu sein, permanent auf Displays und Monitore zu starren. Wer so aufwächst, kennt es nicht anders. In Österreich könnte man auch „das neue Normal“ dazu sagen.
Für andere, mich eingeschlossen, war es ein schleichender Prozess. Durch meine erste Anstellung in der Schweiz bei verbleibendem Wohnort in Österreich bedeutete Arbeit gleich „Bildschirm“, das heißt Arbeitszeit = Bildschirmzeit. So vergingen die Stunden des Tages überwiegend von Angesicht zu Bildschirm – könnte dieser sehen, niemand würde mein Gesicht besser kennen als er.
Sicher, in den meisten Berufen ist die Computerarbeit nicht mehr wegzudenken. Die Vorteile und Möglichkeiten sind unbestritten immens. Was fehlt, ist der Ausgleich. Die Wahrung der Verbindung zur analogen Welt in 3D. Sinneserfahrungen, die über Pixelschau und Mausklick hinausgehen.
Manchmal, wenn ich zuhause in einer Arbeitspause über diese Dinge nachsann, fühlte ich mich der Gesellschaft seltsam entfremdet. Nicht in das neue Normal passend. Doch dann fielen mir Menschen wie der Busfahrer letzthin ein, der zwei Monate im Jahr in der schwedischen Wildnis lebt, um glücklich leben zu können, oder Giacomo, jener italienische Mann, der sich nach 15 Jahren im Büro mit seiner Familie an den Fuß eines Berges ein autarkes Leben aufbaute, um „wieder Regen auf meiner Haut zu spüren, wenn das Wetter so ist“. Jedes Mal, wenn ich an seine Worte dachte, musste ich schmunzeln. Es hatte schon etwas: Niemand steht gerne stundenlang im Regen und wir sind alle heilfroh über ein Dach über dem Kopf. Aber spätestens wer nichts mehr „in Echt“ spürt, wünscht sich hin und wieder einen Regentropfen (und häufiger noch einen Sonnenstrahl) im Gesicht.
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