Warum schießen wir noch?
Der Wolf als Förderer der Biodiversität
Illegaler Abschuss passiert nicht nur im tropischen Regenwald oder in den afrikanischen Savannen. Er passiert direkt hinter unseren Städten, in den Wäldern Vorarlbergs, Tirols, Bayerns und Südtirols. Insbesondere. Natürlich wird er auch andernorts abgeschossen. Nicht, dass man darauf stolz sein sollte. Im Gegenteil. Welche Schande ist es, dass im gut gesitteten, ordentlichen und gesetzeskonformen Österreich illegale Abschüsse passieren. Und die Politik schaut weg.
Der Verhaltensbiologe Kurt Kotrschal, Nachfolger von Konrad Lorenz, Mitbegründer des Wolf Science Center in Ernstbrunn (Niederösterreich) und emeritierter Professor, schätzt in seinem 2022 erschienen Buch den Wolfbestand in Europa auf etwa 20.000 Wölfe. In Deutschland sind es 2.000, in Frankreich 500, in der Schweiz 150 und in Österreich 20 bis 50. Weltweit besiedeln rund 200.000 frei lebende Wölfe die Nordhalbkugel und 800.000 leben in Gefangenschaft. Es gibt also viermal mehr Wölfe in Gefangenschaft als in freier Wildbahn. Hunde gibt es übrigens eine Milliarde – also tausendmal mehr als Wölfe.
Wer braucht den Wolf? Der Wald braucht ihn. Auch das Wild braucht ihn, denkt man etwa an die in den Rotwildbeständen im Westen Österreichs grassierende Tuberkulose. Wölfe halten die Wildbestände nun einmal gesund. Doch der Wolf ist mehr als ein ökologischer Förderer der Biodiversität. Der Wolf ist, um mir die Worte Kurt Kotrschals auszuleihen, ein „Katalysator politischer Debatten in der Gesellschaft“[1]. Stimmt’s nicht: Seit der Industrialisierung verschwinden die natürlichen Lebensräume und mit ihnen verschwinden zahlreiche Vogel-, Amphibien-, Reptilien-, Fisch-, Insekten- und auch Säugetierarten. Laut dem „Living Planet Report“ sank die Artenvielfalt um 70 Prozent allein seit den 1970er Jahren.
Eines der beeindruckendsten und erfolgreichsten Beispiele einer wiederkehrenden Biodiversität ist wohl der Yellowstone-Nationalpark in den USA. Seit rund 25 Jahren leben dort wieder Wölfe in mehreren Rudeln. Sie reduzierten die vorher starke Überpopulationen der großen Grasfresser (Wapitihirsche, Elche, Bisons). Was geschah? Die Vegetation erholte sich, vor allem an den Gewässern, wo die Grasfresser leichte Beute sind. Die Erosion, also die Abtragung von Boden und dessen schleichender Verlust, verringerte sich. Was passierte noch? Offenbar hatten es von da an auch die Bären leichter und Grizzly- und Schwarzbären freuten sich unter anderem am gesteigerten herbstlichen Beerenangebot. Als „Apex-Prädatoren“ – die, die ganz oben sind in der Nahrungskette – regulieren Wölfe recht effektiv kleinere Beutegreifer, insbesondere Kojoten, die sie aus ihren Territorien verjagen. Davon profitiert wiederum deren Beute – Kleinsäuger, einschließlich dem Biber. Naja, und dass der Biber (s)eine vielfältige Landschaft selbst gestaltet, wo wiederum andere Tiere und Pflanzen Lebensraums finden, dürfte bekannt sein. Die Wölfe wirkten sich also positiv auf die ganze Biodiversität im Nationalpark aus.
So schwer wär’s nicht. Klar, und das räumt auch Kotrschal ein, kann man diese tollen Ergebnisse nicht eins zu eins auf Europa übertragen. Aber auch hier kontrollieren Wölfe die mittelgroßen Beutegreifer wie Dachs, Rotfuchs, Fischotter und Goldschakal, was in Folge die Diversität der Fauna (Tierwelt) begünstigt. Vom Wildverbiss und der leidenden Flora brauchen wir hier gar nicht anzufangen.
Beinahe hätte ich jetzt als Abschluss „man muss nicht pro Wolf sein“ geschrieben, und mir überlegt, wie es schon gut wäre, einfach neutral zu sein, aber das stimmt eben nicht. Wer sich ein bisschen informiert, weiß auch als Landwirt, dass es Möglichkeiten für effektiven Herdenschutz bei Schafen gibt. Und verängstigten Wanderern kann man halt nur ans Herz legen, sich auch ihres Verstandes zu bedienen, die Fakten anzusehen und nicht irgendwelchen alten Horrorgeschichten vom bösen Wolf anheimzufallen. Als Mini-Crash-Kurs sei hier nur gesagt: Während man bei einem Bären höflich, still und langsam den Rückzug antritt, lassen sich Wölfe durch menschliches Macho-Gehabe beeindrucken. Soll heißen: Wölfe zeigen sich in den seltensten Fällen; allenfalls überkommt einen neugierigen Jungwolf der Impuls, sich einen Menschen mal aus der Nähe anzusehen. Das ist als Mustern zu verstehen, nicht als Bedrohung. Natürlich kann man bei einer Nahbegegnung getrost eine Drohkulisse aufbauen – schreien, sich groß machen, einen Stein oder Ast werfen. Es ist keinesfalls schlecht für das weitere Leben des Wolfes, zu denken, dass wir Menschen nicht sonderlich nett sind.
Sind wir ja auch nicht. Wir leben als gehörte uns die Welt allein. Darüber sollte ein jeder einmal nachdenken, insbesondere ein jeder Stadtmensch, dem man es ja auch nicht verübeln kann in dieser Einöde aus Beton, zu vergessen, dass wir diese Welt künstlich geschaffen haben.
Wolf-Knigge vom Naturschutzbund: Wie man sich richtig verhaltet bei einer Begegnung mit einem Wolf
Zum Buch:
Kurt Kotrschal: „Der Wolf und wir. Wie aus ihm unser erstes Haustier wurde – und warum seine Rückkehr Chancen bietet.“ Standard-Werk mit neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen zu Wolf und Hund. 240 Seiten, 1. Auflage, Brandstätter Verlag. ISBN: 978-3-7106-0597-0
Link zum Buch: https://www.brandstaetterverlag.com/buch/der-wolf-und-wir/
[1] Kotrschal 2022, S. 21