Nachhaltigkeit ist eine Frage des klugen Ein- und Aufteilens von Zeit
Textauszüge aus „Erhalten und Erneuern“ von Fritz Reheis
Wer am Puls der Zeit sein will, kommt heute am Bekenntnis zur „Nachhaltigkeit“ nicht mehr vorbei. Bei manchen Gütern, deren Eignung als Beitrag zur Umsetzung des Leitbilds der Nachhaltigkeit nicht jedem sofort einleuchtet, besteht Rechtfertigungsbedarf. Dabei begegnet uns ein vertrautes Bild. Vor einiger Zeit schon warben zum Beispiel Hersteller von Kinderschokolade damit, dass die Käufer mit dem Kauf dieser Süßigkeiten auch gleich ein Programm zur Gesundheitserziehung für Kinder mitfinanzieren könnten. Heute begründen die Hersteller von SUVs, mit den Umsätzen, die mit solchen Fahrzeugen gemacht werden, könne überhaupt erst die Entwicklung von Elektroautos finanziert werden. Es muss also offenbar immer erst Schädliches produziert werden, um die Voraussetzungen dafür zu schaffen, den Schaden wieder gutzumachen.
Der Begriff „nachhaltig“ verkauft sich hervorragend. Nachhaltigkeit soll Zukunftsfähigkeit und Enkeltauglichkeit signalisieren, und so für ein gutes Gewissen sorgen. Nachhaltigkeit ist heute zur generellen Vertrauenswährung im Marketing verkommen. In einer Zeit, in der Fake-News an allen Ecken und Enden die öffentliche Kommunikation vergiften, gilt eine solche Vertrauenswährung offensichtlich als unverzichtbar. Fast alles, was verkauft werden soll, beansprucht heute das Etikett „nachhaltig“, zuletzt sogar Investments in Gas-, Atom- und Rüstungstechnologie. Auch die Politik legt längst Wert auf das Bekenntnis zur Nachhaltigkeit. Staaten schließen heute kein Freihandelsabkommen mehr ab, ohne ein Nachhaltigkeitskapitel einzufügen. All das ist Grund genug, die Nachhaltigkeitsidee einem Fakten-Check zu unterziehen.
Das deutsche Wort „Nachhaltigkeit“ ist eine Übersetzung des englischen Wortes „sustainability“. Nachhaltigkeit bedeutet zunächst einmal nichts anderes als Durchhaltbarkeit und Dauerhaftigkeit. Erstmals aufgetaucht ist ein Vorläufer des Wortes in einem forstwirtschaftlichen Lehrbuch aus dem Jahr 1713. Eine „continuierliche“, „beständige“ und „nachhaltende“ Nutzung von Wäldern erfordere, so schreibt Carl von Carlowitz, dass nur so viele Bäume gefällt werden, wie wieder nachwachsen. […]
„Nachhaltig“ ist eine Entwicklung dann, wenn sie „die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können“. […]
Alles eine Frage der Zeit
Weiten wir den Blick, zeitlich und räumlich: Seit 1950 hat sich die Zahl der Menschen verdreifacht, der globale Ausstoß an Treibhausgasen nahezu verfünffacht, das globale reale Sozialprodukt weit mehr als verzehnfacht. Was tun? Die Suche nach Antworten macht ratlos. Gern wird auf den globalen Süden verwiesen. Dort müsse die Geburtenzahl reduziert werden, heißt es. Nur: Haben die Neugeborenen im globalen Norden nicht einen ungleich höheren ökologischen Fußabdruck? Als hauptsächlich verantwortlich gilt deshalb wohl für die meisten Menschen der globale Norden. Dessen Wirtschaft müsse grünen, sagen die Einen. Nur: Wer kann sich das grüne Leben leisten? Die Wirtschaft müsse schrumpfen, sagen Andere. Nur: Wer soll verzichten? Worauf? Und was wird aus den Arbeitsplätzen? […]
Umwelt, Mitwelt, Innenwelt
Wenn man „die Welt“ mit der Zeit-Brille betrachtet und nach Veränderungen fragt, hat man es genau genommen mit drei Teilwelten zu tun. Geordnet nach ihrem Alter sind das erstens die natürliche Umwelt, zweitens die soziale Mitwelt und drittens die personale Innenwelt. In der Regel fokussiert sich der Nachhaltigkeitsdiskurs auf den Umgang mit der natürlichen Umwelt. Spätestens wenn das Problem der Finanzierung der ökologischen Transformation auftaucht, wird dann notgedrungen auch die soziale Mitwelt einbezogen. Nachhaltigkeit muss man sich ja auch leisten können, heißt es dann, und was man sich leisten kann, bestimmt sich im Verhältnis der Menschen zueinander, dort nämlich, wo es um Einkommen, Vermögen und Macht, also um das Soziale geht. Und die Einbeziehung der Innenwelt in den Nachhaltigkeitsdiskurs ist vor allem deshalb wichtig, weil geklärt werden muss, warum Umweltbewusstsein und Umweltverhalten derart stark auseinanderklaffen, wie das ganz offensichtlich der Fall ist. In der Innenwelt des Menschen entscheidet sich, ob und wie das Leitbild der Nachhaltigen Entwicklung für Herz und Kopf attraktiv werden und schließlich zum praktischen Handeln motivieren kann. Die Kunst der Verankerung des Leitbilds im Inneren des Menschen besteht darin, von negativen wie positiven Erfahrungen im Umgang mit Zeit in der Innenwelt auszugehen und daraus Schlüsse für den Umgang mit der Außenwelt zu ziehen – im Hinblick auf das Ziel des guten Lebens für alle.
Die Botschaft […] lässt sich für die sehr eilige Leserin und den sehr eiligen Leser zusammenfassen. Erstens: Nachhaltigkeit ist eine Frage der Zeit, genauer: der zyklischen Zeit. Nachhaltig ist eine Entwicklung, wenn sie einer annähernd kreisenden Bewegung folgt, wenn sie auf die „Wiederkehr des Ähnlichen“ zielt. Die fortschrittssüchtige Moderne mit ihrem Mantra des „Schneller, höher, weiter!“ hat uns die schlichte Tatsache vergessen lassen, dass bei allem Fortschreiten die Bodenhaftung nicht verloren gehen darf. Innovationen sind nicht beliebig steigerbar, es muss auch Dinge geben, die über die Zeit hinweg bestehen bleiben. Zweitens: Die Wiederkehr des Ähnlichen ist buchstäblich allumfassend. Sie ist nicht nur für den Umgang mit der natürlichen Umwelt maßgeblich, sondern ebenso für den Umgang mit der sozialen Mitwelt und der personalen Innenwelt, also des Menschen mit sich selbst. In allen drei Teilwelten kommt es auf eine relative Stabilität als Voraussetzung für kontrollierten Wandel an. Und drittens: Nachhaltigkeit ist eine Frage des klugen Ein- und Aufteilens von Zeit – der Zeit der Natur, die sich von der Beanspruchung durch den Menschen immer wieder erneut erholen muss, der Zeit der Mitmenschen, mit denen wir uns immer wieder irgendwie arrangieren müssen, und der Zeit des Einzelnen, der zu sich selbst finden und klären muss, was er eigentlich wirklich will. In einem Satz (an ein berühmtes Kant-Zitat angelehnt): Nachhaltig ist eine Entwicklung nur dann, wenn sie dafür sorgt, dass die Frucht am Baum über mir, die Freundlichkeit des Nachbarn neben mir und das gute Gefühl in mir regelmäßig wiederkehren.
Man könnte auch sagen: Nachhaltigkeit zielt auf den Frieden – mit der Natur, den Mitmenschen und sich selbst. […]

Zur Person:
Fritz Reheis ist promovierter Soziologe und habilitierter Erziehungswissenschaftler. Er war zehn Jahre Hochschullehrer für Politische Bildung an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg, wo er noch als Lehrbeauftragter aktiv ist. Zudem ist er Gründungs- und Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik. Seit 25 Jahren publiziert er zu „Zeit“, „Entschleunigung“ und „Resonanz“. https://fritz-reheis.de/
Foto: © Weissbach
Quelle:
Reheis, Fritz (2022): „Erhalten und Erneuern. Nur Kreisläufe sind nachhaltig, Durchläufe nicht“, VSA: Verlag, Hamburg, 144 Seiten, ISBN 978-3-96488-163-2 (Auszüge aus dem einführenden Kapitel „Mehr als eine Worthülse“)