18 Zwischen den Jahren
Zwischen den Jahren
Die Wildnis hatte gerufen und ich hatte geantwortet. Der Umzug war ein Auszug aus der Stadt und Einzug aufs Land – mitten in der Weihnachtszeit. Nach einem bezaubernden Dezemberbeginn mit filmischer, frohlockender Schneepracht, die allen Menschen gefiel, außer den Autofahrern, und die, zugegeben, Gehwege blockierte, dort, wo niemand sich die Mühe machte zu räumen, aber kurzzeitig alles in ein weißes, schützendes Kleid tauchte, in einen Vorhang, der Laute verschluckte und Ruhe ausstrahlte, nach so einem Dezemberbeginn kam bald der Föhn und hob den weißen Vorhang rasch wieder von der Welt.
Die Umzugskartons füllten Sven und ich, während draußen Windböen über grüne Stadtparkwiesen, vor allem aber zwischen Häuserfronten fegte (buchstäblich den Müll die Straßen entlangfegte, nur, dass am Ende leider niemand mit einer großen Kehrschaufel stand und alles einsammelte), wie ein Ungeheuer zischte und noch offene Fenster wütend zuschlug. Neben der allgemeinen Mühe des Sortierens und Abwägens von immer noch Brauchbarem und inzwischen Unbrauchbarem erschwerte die Kleinräumigkeit der Stadtwohnung das Anordnen der befüllten Kartons. Es war ein bisschen wie Tetris spielen (für all jene, die das nicht mehr kennen: ein beliebtes Gameboy Spiel aus den 1980er Jahren).
Tat’s weh zu gehen? Weniger als gedacht. Das Bekannte zu verlassen war stets beängstigend, sogar wenn es gar nicht gut war. Wer aber lange genug darin verhaftet war und lange genug innere Gefängnismauern angestarrt hatte, mag vielleicht dann doch durch die offene Tür gehen. Vielleicht sogar gerne.
„Möchtest du deine Schweizer Tastatur mitnehmen, Leah?“, kam es hinter der Wand aus aufgestapelten Umzugskartons hervor. Ich musste nicht lange überlegen. „Nein, ich verkaufe oder verschenke sie. Warte.“ Ich kam um die Wand herum und nahm die Tastatur Sven aus der Hand. „Hast du…?“, begann ich.
„Hier ist die Liste.“ Sven holte den zusammengefalteten A4 Zettel mit allen Gegenständen, die funktionstüchtig waren, aber die wir nicht mehr brauchen würden – oder nicht mehr gebrauchen wollten –, aus seiner Hosentasche hervor. Er lächelte mich an. „Wir werden in einem leeren Haus leben, wenn das so weitergeht.“ Er reichte mir das Papier.
„Wir werden es mit etwas anderem füllen“, erwiderte ich mit einem Lachen.
„Mit Fichtenzapfen?“
„Vielleicht.“
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In der Nacht vor dem 20. Dezember stürmte es erneut. Windgeschwindigkeiten von über 100 Kilometer pro Stunde wurden im ganzen Land gemessen. Unbefestigte Mülltonnen, die durch die Straßen gefegt wurden, bis sie kollidierten, verteilten die ansonsten unsichtbaren (geheimen!), weil ordentlich weggeräumten Hinterlassenschaften des wissenden Menschen. Kleinwagen kollidierten mit Kraftwagen, flachwurzelnde Bäume stürzten in Hauswände. Es gab Scherben in der Stadt und der einzige Trost war wohl, dass verhältnismäßig warmer Wind durch die zertrümmerten Scheiben in die weihnachtlich beleuchteten Wohnzimmer drang. Trotzdem war das Murren im Land groß. „Massive Sturmschäden vor dem Weihnachtswochenende“, „Kilometerlange Staus führen zu Lieferverzögerungen“ und „Katastrophale wirtschaftliche Folgen fürs diesjährige Weihnachtsgeschäft“ betitelten die Online-Zeitungen.
Von diesen Überschriften blieb ich unberührt. Gedanklich war ich schon draußen; durchstreifte mein Geist wie ein Wanderfalke den Grund der Wälder, Wiesen und Berghänge mit seinen scharfen Augen aus der Luft, segelte ich durch und über die Täler des Garden-Himmel-Nationalparks. Es war nicht so, dass mir niemand fehlen würde. Und es machte keinen Unterschied, dass es nur wenige Menschen waren – waren das schließlich die wertvollen.
Was überwiegte, war, was Sven, Remus und mir definitiv nicht fehlen würde. Allem voran die verpestete Luft. Am Mittag des Tages der Wintersonnwende war die Luft in der Stadt zwar durch den vorhergangengen Sturm „Alfons“ (die rein weibliche Benennung von Unwettergeschehnissen war Anfang der 2020er dank der Frauenbewegung abgeschafft worden) sozusagen „geputzt“ worden, doch selbst beim Beladen des Kleintransporters, den Sven von einem Arbeitskollegen ausgeliehen hatte, genügten zwei gedankenlose Kleinstadthelden, die bei laufendem Motor in unmittelbarer Nähe vom Transporter in ihren SUVs saßen, um den ganzen Parkplatz zu verpesten. Ich warf ihnen bewusst böse Blicke zu, doch sie waren beide in ihre Dashboards versunken. Entnervt sagte ich mir innerlich vor, dass es in diesem Land nicht rechtens war, Mitmenschen im öffentlichen Raum auf ihre ökologisch schädliche Dummheit aufmerksam zu machen.
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Die letzte Kiste und der letzte Blumentopf waren eingeladen. Noch ein Blick zurück zum Wohnblock und wir fuhren los. An der Engelkreuzung mussten wir wegen eines Verkehrsunfalls länger warten. Sven saß am Steuer (das Ding wollte ich nicht fahren), mein Blick war zum Fenster gerichtet, auch wenn mich die Autos auf den Straßen nicht interessierten. Ich dachte an Linda, unser letztes Gespräch. Wir waren durch den Stadtpark spaziert, als vorläufiges Abschiedstreffen. Linda war gar nicht begeistert von der Neuigkeit gewesen, dass wir wegziehen würden.
„Wieso bist du so seltsam, Leah?“, war es ihr bei diesem Spaziergang herausgeplatzt.
„Was meinst du genau?“
„Wieso gefällt es dir hier nicht? Die Stadt, die vielen Angebote und Möglichkeiten. Deine gut bezahlte wissenschaftliche Arbeit, … ? Ich kann wirklich nicht verstehen, wieso du das alles aufgibst für – für ein altes Bauernhaus mitten im Nichts, wo sich Fuchs und Hase Gute Nacht sagen.“
Ich hatte erstmal nichts erwidert.
„ … ich meine, ihr müsst mit Holz heizen und womöglich gibt’s nicht einmal heißes Wasser und der nächste nennenswerte Laden ist ewig weit entfernt. Der Wald und so, das klingt super romantisch, das Haus als Ferienhaus, das würde ich voll verstehen bei euch, aber im Alltag – willst du wirklich so mühevoll leben?“
Remus hatte sich einen Ast geschnappt – ein Geschenk des Sturms – und begonnen, darauf herumzukauen. Wir waren stehen geblieben. Ich wusste, dass Linda es gut meinte, sich ernsthafte Sorgen machte. Wir sahen uns an und ich antwortete: „Ich habe verstanden, dass wenn man nicht selbst tut, wovon man träumt, es nie wahr werden, nicht passieren wird. Darum tun wir es.“
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Die nächsten Tage waren wir mit Auspacken beschäftigt – zuerst aber noch mit Putzen. Das Haus war ein Jahrzehnt leer gestanden, der Staub entsprechend zentimeterdick. Zwei Fenster klemmten beim Öffnen, eines ließ sich gar nicht öffnen. Einige Fensterläden mussten erneuert werden. Es gab neben dem Kamin auch eine alte Ölheizung im Haus, an die das Warmwasser gekoppelt war und die wir im nächsten Jahr gegen eine Luftwärmepumpe austauschen wollten. Aktuell aber schien es ein Problem mit der Wärmeleitung der Ölheizung zu geben und das Wasser wurde maximal lauwarm. Die Küche war relativ neu und funktionsfähig. Es war in Ordnung. Wir waren nicht auf Urlaub in ein Luxushotel gekommen.
Die beiden „körperscheinlichsten“ Veränderungen waren die saubere, frische Luft ums Haus und beim Öffnen der Fenster auch spürbar im Haus und die Geräusche bei Tag und Nacht. Unsere städtischen Ohren, einen beständigen Pegel an Straßenlärm gewohnt, meldeten zunächst die Abwesenheit davon. Es folgten Wahrnehmungen von Vogelgezwitscher, die nach und nach feiner verschiedene Vogelarten unterscheiden lernen sollten, raschelnden Baumkronen, Holzknirschen und, besonders nachts, tippelnden Mäusefüßen in den Fundamentmauern des Hauses.
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Bis zum Weihnachtsabend war das Haus schon in erheblich saubererem und gemütlicherem Zustand. Remus hatte bereits drei, vier Stamm-Liegeplätze für sich gefunden und wechselte regelmäßig zwischen ihnen. Vielleicht zog er gerade eine finale Überprüfung vor, welcher der vier denn nun der angenehmste war. Während ich eine Kartoffelcremesuppe und eine Nachspeise – es würde wohl ein Marmorkuchen werden – zubereitete, widmete sich Sven seiner Spezialität, hausgemachten mit Gemüse gefüllten Tortellini. Wir würden dieses Jahr alleine feiern. Es wäre zu viel gewesen, gleich nach dem Umzug jemanden einzuladen und wir mussten das Haus und Landleben erst noch besser kennenlernen.
Der Weihnachtsabend war schön ruhig und endete mit einer willkommen Überraschung: Sven hatte die Badewanne geputzt und mit vom Kamin erhitzten Wasser eingelassen. Dankbar genoss ich die wohltuende Wärme und brauchte ausnahmsweise kein Buch in der Hand, wie ich es sonst bei Ferien- oder geschäftlichen Hotelaufenthalten, bei denen eine Badewanne vorhanden war, zu tun pflegte (in den Wohnungen, in denen ich aufgewachsen war und studiert hatte, hatte es nie eine Badewanne gegeben).
In der Woche bis zum Jahreswechsel entdeckte auch ich meine Lieblingslätze im Haus. Von welchem Sitz aus welcher Bergrücken zu sehen war oder wie wohlig warm und einschläfernd es sich im Sessel neben dem Kamin lag. Sven überließ es mir, Bilder aufzuhängen, und mit jedem Bild wurde die Atmosphäre persönlicher und das Haus mehr zu unserem neuen Zuhause. Das Beste war aber nicht das Haus. Das Beste war der Garten. Er war logischerweise verwildert, aber er war „draußen“, Teil der Umgebung. In fünfzig Metern Entfernung vom Haus konnte man leise ein nahes Bächlein vorbeifließen hören. Eichel- und gelegentlich Tannenhäher flogen an uns vorbei; Meisen, Rotkehlchen, Grünspechte gehörten zu Besuchern. Ich erfreute mich an jedem Vogel.
Diese Beschreibungen sind nicht falsch, nicht als naive, wildromantische Anfänge zu verstehen. Ich erinnere mich genau an die arbeitsintensiven Tage, Blasen an den Handflächen, Holzsprießen im Finger, bleierne Beine am Abend, an die körperliche Müdigkeit. Wie gut ich plötzlich schlief, wie sich der Vorhang des Schlafes sofort über meinen Geist legte, sobald ich den Körper ins Bett legte. Es war physisch anstrengend, zweifelsohne. Und manchmal, beim Blick aus dem Fenster in die Weite, tauchten Fragen auf. War das die richtige Entscheidung gewesen? Würden wir hier Menschen begegnen, mit denen wir uns gut verstanden, oder stand uns ein einsames Leben bevor? Wie würde meine Arbeit werden? Könnte ich mich bei Verhandlungen mit der Land- und Fortwirtschaftskammer durchsetzen? Doch das Fragen, das Zweifeln war ein Teil von mir – ein Teil, der, wie mir schien, an diesem Ort kleiner, ruhiger war. Es gab zu viele kleine, alltägliche Dinge, die mein Herz erfreuten und nicht nur meinen Mund zum Lächeln brachten. Etwas, wie mir in meinen alljährlichen Reflexionen zum Jahresende beziehungsweise -neuanfang bewusst wurde, das in den letzten Jahren kontinuierlich abgenommen hatte. Alleine die Streifzüge mit Remus durch den Wald waren einmalig – und das obwohl wir sie beinahe täglich unternahmen. Doch es war mehr als das. Es war die Schlichtheit des Seins, die durch die Abwesenheit digitaler, omnipräsenter Impulse, durch die fehlende Werbung, die suggerierte, dass Hier und Jetzt nicht genug ist, sondern es noch ein Dieses und Jenes braucht. Das Nicht-Warten auf Antworten von Menschen, die wie man selbst keine Zeit haben.
Ich fragte mich schnell, ob der Auszug aus der Stadt ein Davonrennen gewesen war, eine Flucht vor der virtuellen Moderne, und stellte Sven genau diese Frage.
„Liebling, wir sind von nichts davon gerannt. Wir haben jahrelang darüber nachgedacht, wo und vor allem wie wir leben wollen. Du hast jahrelang mit deiner Arbeit gekämpft und nun eine tolle Chance erhalten, etwas zu bewirken, das dir wichtig ist. Was sollte daran falsch sein?“
„Du hast recht. Ich habe nur immer das Gefühl, es wird erwartet, wie der Rest der Welt zu sein…“
„Der Rest der Welt, den du nicht einmal gut findest.“ Pause. „Ich übrigens auch nicht.“
Ich lachte laut los.
Es war interessant, wie tief die Angst saß, nicht dazu zu gehören… obwohl man eigentlich gar nicht dazu gehören wollte, obwohl man selbst etwas anderes wählte. Wahrscheinlich, weil jedes Kind das Gefühl von Zugehörigkeit brauchte. Erst im Erwachsenenalter konnte man womöglich bewusster wählen, wozu man sich zugehörig fühlen wollte.
Am Silvesterabend erklangen zum Abendessen die Kapellenglocken aus dem Dorfkern. Schießerei gab es keine. Remus, hätte er gewusst, wovon er nun verschont blieb, wäre überglücklich gewesen. Andererseits sah er auch jetzt – er lag lang ausgestreckt auf dem Teppich vor dem Sofa, auf dem Sven und ich mit einem Glas Sekt saßen – mehr als zufrieden aus. Kurz vor Mitternacht schaltete Sven das Radio ein und streckte mir die Hand entgegen, um gemeinsam zum Donauwalzer zu tanzen.
„Ein gutes neues Jahr, meine liebe Leah.“
„Das wünsche ich dir auch.“
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