14 Wer nachts in den Bergen in den Himmel schaut
Wo kein Licht ist, ist kein Schatten. Das stimmt am Tag. Wo nachts kein Licht ist, da erst zeigt sich der Sternenhimmel unfassbar schön.
Es war drei Uhr morgens im Winterraum auf der Seelruhighütte. In letzter Zeit wachte ich nachts regelmäßig auf. Ich hörte nichts, sah aber durch ein kleines Fenster den Stern. Es war ein mir unbekannter Stern; doch es war jener Stern, der mich aufstehen und nachsehen ließ, ob sich die Regenwolken des Vorabends, mit denen wir zu Bett gegangen waren, aufgelöst hatten. Müde und wach schälte ich mich aus dem Hüttenschlafsack und klettere aus dem doppelstöckigen Matratzenlager zum Eingang. Keine großen Hoffnungen hegend öffnete ich die Holztür. Vor mir zeigte sich ein Sternenfirmament in seiner schönsten Pracht. Es waren hunderte, die sich mir allein aus der Tür blickend entgegenstellten. Sterne, die immer da waren – nur die meiste Zeit verborgen.
Eine Traurigkeit ergriff mich, wie es nur passieren konnte, wenn man nicht für etwas derart Wunderbares und Erhabenes vorbereitet war. Halb verschlafen und erschöpft von den Bergstiegen der letzten Tage fehlte der gewöhnliche Schutzschild des Alltages und meines Funktionierens darin. Wie sich der Sternenhimmel unverschleiert durch Lichtverschmutzung zeigte, stand ich mit meinem Herzen nackt vor ihm. Ich ging durch den Türrahmen ins Freie und erlaubte jedem Auge eine Träne zu verlieren. Dann fasste ich mich wieder und blickte ein paar Minuten still in den sternenklaren Nachthimmel, bevor ich Sven und die anderen weckte, um ihnen diesen Anblick nicht vorzuenthalten.
Wir waren überwältigt von der (Unbe)Greifbarkeit des Universums, das bei Tage nicht spürbar in unser aller Routinen verweilte. Ich merkte, was für einen Eindruck die Erfahrung bei jedem von uns hinterlassen hatte, und wünschte mir, er würde sich als ein bleibender herausstellen.
Einige Tage später beschloss ich, erneut Richtung Berg zu gehen. Weder hoch noch abgelegen saß ich neben Remus auf einem Hügel mit Sicht über die Stadt. Es fing langsam an zu dämmern und Remus hatte nur Ohren, Augen und vor allem Nase für das Wild, das sich im Wald hinter uns befand. Die Temperatur war angenehm, ein leichter Wind fuhr erfrischend über Gesicht und Arme und brachte das Blätterwerk der umliegenden Bäume zum Rascheln.
Kurz nach unseren Bergtagen hatte ich einen Anruf der Naturschutzbehörde und eine Stelleninformation erhalten – mit der Einladung, mich zu bewerben. Das Garden- und Himmeltal zwischen Schröffen, Rug und Sagul mit den dazugehörigen Gebirgsgruppen Vaschiga, Ruger Alpen und Grünaungruppe sollten zum Nationalpark werden. Yvonne vom botanischen Institut der Universität Innsbruck hatte ihnen von meinen fachlichen und außerfachlichen Kompetenzen erzählt. Die Stelle bedeutete den Abschied von der theoretischen Wissenschaft, dem sicheren, hoch angesehen, gut bezahlten Computerjob und dem bequemen Leben in der Kleinstadt. Ein Richtungswechsel. Eine Rückkehr zum Leben in und mit der Natur.
„Es ist Zeit“, sagte ich zu Remus. Ich stand auf, Remus tat es mir gleich.
Zeit, meine Überzeugung wirklich zu leben.
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