8 Die Hürde des Fliegens
Vom Zugeständnis, es anders zu machen
Langsam wurde ich mutiger, zu sagen, was ich dachte, ohne mich dafür zu schämen, etwas anders zu machen. Beim Spaziergang mit Sarah am Bodensee erzählte ich von der langen Zugreise in den Westen Spaniens. Die 2.000 Kilometer erforderten eine Übernachtung unterwegs; auf dem Hinweg würde ich die Reise mit einem Besuch bei Bekannten verbinden und sogar noch eine zweite Übernachtung dazwischen nehmen.
„Warum fliegst du denn nicht?“, fragte Sarah mich völlig verwundert bis leicht irritiert. Wir kannten uns weder sehr lange noch sehr gut. Sarah schien mir beim Kennenlernen eine naturverbundene, sehr tierliebe Person zu sein, und dieser Eindruck hatte sich bestätigt. Sie wanderte gerne, hatte große Empathie für alle Geschöpfe und ernährte sich vegan bis vegetarisch. Ich fühlte mich wohl bei unseren Spaziergängen, denn sie waren von Gesprächen gekennzeichnet, die ein gutes Gleichgewicht von Zuhören und Reden beider Beteiligter fanden (eine Seltenheit).
Ich zögerte kurz mit meiner Antwort. Wie könnte ich sie formulieren, ohne zu sehr raushängen zu lassen, der Meinung zu sein, das Richtige zu tun? „Ich fliege nicht“, begann ich und brach ab. Ihre Augen wurden ein klein wenig größer, die Brauen zogen leicht nach oben. „Ich kann nicht sagen, dass ich in meinem Leben nie wieder fliegen werde, aber ich versuche es auf jeden Fall, zu vermeiden.“
Es war ein wenig angenehmer Moment. Unsere junge, sich in der Entwicklung befindende Freundschaft war noch unerprobt. Fand Sarah das jetzt total doof von mir? War ich ein Spiegel, in den sie nicht sehen wollte? Kam ich arrogant herüber? Ich hatte begonnen zu lernen, dass es in solchen Situationen wichtig war, zu vermitteln, dem Gegenüber, das es anders machte, nichts vorzuwerfen – sowohl in der Wortwahl als auch im Tonfall oder sonst irgendwie auf einer ungewollten Projektions- oder Suggestionsfläche, die manchmal gar nicht von einem selbst ausgeht.
Sarah nickte. Um im Gespräch nicht länger am Punkt des Fliegens zu bleiben, erzählte ich weiter von der Reise und auch vom Koordinationstreffen selbst. Wir kamen nicht mehr auf die Flugthematik zu sprechen. Zuhause, einen Tag später, schrieb ich Sarah sicherheitshalber noch eine Nachricht. Schriftlich war ich einfach schon immer besser gewesen als mündlich: „Hi Sarah, war nett gestern! Ich hoffe sehr, dass dich nicht gestört hat, wie ich persönlich zum Fliegen stehe. Ich wollte dir damit nichts ‚madig‘ machen. Klima- und Naturschutz waren einfach immer schon ein Teil von mir (auch schon vor 15 Jahren). Ich respektiere, wenn Freunde anders leben, kann und möchte mich selbst aber auch nicht verstellen.“
Es war schon fast Mitternacht, so ging ich schlafen. Ich brauchte am nächsten Tag aber nicht lange auf ihre Antwort zu warten: „Guten Morgen Leah, da musst du dir keine Gedanken machen. Mich stört es nicht, warum auch. Jeder hat seine eigenen Werte und Überzeugungen, die es wert sind, respektiert zu werden. Und dass du dich wegen mir verstellst, würde ich schon dreimal nicht mögen 😉 Aber ich hatte auch schon überlegt zu schreiben, dass ich nicht hoffe, dass ich dir die Schokolade madig gemacht habe – das wäre nämlich überhaupt nicht meine Absicht gewesen.“
Ich war erleichtert. Zu oft trennten unterschiedliche Meinungen ganze Familien und gute Freundschaften. Sarahs Antwort war eine Art Befreiung und Zugeständnis. Die Befreiung von der Angst, sich durch einen unpopulären (nicht mehrheitstauglichen) Lebensstil sozial ins Abseits zu stellen. Das Zugeständnis, man selbst sein und anderer Meinung sein zu dürfen. Ungewöhnliche Entscheidungen mussten nicht per se auf Widerstand stoßen oder einen zum Außenseiter machen. Im Gegenteil konnten sie eine Tür öffnen, authentisch zu sein und gleichzeitig respektvoll miteinander umzugehen.
Weiter zum nächsten literarischen Beitrag