22 Mein Weg
Mein Weg
Die Nacht warf lange Schatten hinter die Bäume. Ihr Mond war schmal, ihr Himmel von Wolken verhangen. Der Wald war still, aber nicht stumm. Von seinem Inneren drangen die unterschiedlichsten Geräusche – ein Blätterrascheln dort, der Ruf einer Eule da; Remus‘ und meine vom weichen Waldboden gedämpften Schritte hier. Das unbestimmte hohe Kreischen von vorhin klang noch in meinen Ohren nach. Waren das Füchse gewesen? Es hatte nicht danach geklungen. Welches Tier könnte es sonst gewesen sein? Zwei das Licht meiner Stirnlampe reflektierende Augenpaare tauchten vor meinem geistigen Auge auf. Die beiden waren weit weg gewesen, am Waldrand auf der anderen Seite der Wiese. Wie wenig wussten wir doch über den Wald und seine Bewohner? Am helllichten Tage vergaßen wir das allzu schnell. Die dunkle Jahreszeit ließ uns erinnern.
Nach dem schwülen Herbst war sehr plötzlich der Winter übers Land gezogen. Die Luft war indessen morgens und abends eisig, am Tag erwärmte sie sich rasch. Weil sie trocken war, fehlte es an Schnee. Schneehühner, die über Jahrtausende durch ihren Farbwechsel im Winter bestens vor Feinden getarnt gewesen waren, leuchteten mit ihrem winterlichen weißen Gefieder nun förmlich, wie Warnsignale, in einer sonst grauen, braunen Landschaft über der Waldgrenze. Freilich, die Schneehühner waren darüber (vermutlich) nicht traurig, weil sie das (vermutlich) nicht sein konnten. Es waren also nur ein paar Naturliebhaber (die auch davon wussten), die dieses Schicksal trüb stimmte. Und die Eisbären, die im Meer ertranken bzw. – der viel häufigere Fall – die verhungerten, weil sie für die Jagd auf Meereis mit den dort anzutreffenden Robben angewiesen waren und die Nahrungssuche an Land wesentlich kräftezehrender war und kaum glückte. Wer dachte schon an sie? Die waren noch weiter weg als die Schneehühner. Der Welt waren sie egal.
Dunkel war nicht nur die Nacht, dunkel waren die Gedanken jener, deren Herz nicht nur für sich und ihre Liebsten schlug, die wir ja doch alle sehr komfortabel und sicher im komfortablen und sicheren Europa wohnten, wo sich die Sorgen vieler um das Geld, die Arbeit und das eigene Heim drehten. Ich blieb nicht stehen, auch wenn ich innerlich einen Schritt machte. Nicht, weil ein Geräusch oder eine Bewegung meine Gedanken gestoppt hätten. Es brachte schlicht nichts, über diese Trübsal nachzusinnen oder sich an der Gleichgültigkeit vieler zu ärgern. Seinen Weg gehen – davon unbescholten. Weitergehen. Alles zu tun, was im eigenen Wirkungskreis möglich war.
So ging ich weiter.
Zuhause brannte kein Licht. Svens Auto war nicht da. Die Einfahrt war voller zerfallenem Laub. Remus ging freudig voran zur Tür, wir waren weit gelaufen, da wir den letzten Bus des Tages verpasst hatten. Ich war einige Tage bei meiner Schwester Anna in der Stadt gewesen. Mit einem seltsamen Gefühl im Magen trat auch ich zur Tür, vor der Remus wartete. Ich öffnete. Remus ging vor, schnurstracks zu seinem Trink- und Essplatz, in gewohnter Erwartungshaltung. Ich schaltete das Licht an, trat ein. An der Kommode hingen zwei meiner Jacken, auf der Schuhablage stand ein Paar meiner Schuhe. Zu diesem stellte ich die feuchten Winterstiefel, die ich eben getragen hatte; zu den Jacken hängte ich meinen dicken Wintermantel, auf dem ich früher oft glitzernde Schneekristalle gesehen hatte. Ich hörte Remus‘ Warten, ging aber zuerst in die Küche. Auf dem Tisch lag ein Zettel, den nahm ich auf und las: Leah, ich bin einberufen worden. Es tut mir leid.
Ich legte den Zettel langsam wieder auf den Tisch. Meine Augen verloren kurz den Fokus, dann hörte ich ein dumpfes Geräusch, ein Polster, das verformt wurde. Remus, der sich auf seiner Decke niedergelassen hatte.
Sven war ein fleißiger, pflichtbewusster Mann, der dem Ruf der Arbeit Folge leistete. Noch dazu den Ruf einer sehr wichtigen Ingenieursarbeit zur Katastrophenprävention im Rahmen des Staatsprogrammes „TecKs“ – Technologie zum Katastrophenschutz. Er hatte sich vor Jahren freiwillig verpflichten lassen. Ich ging aus der Küche, um Remus sein Essen zu geben. Während er es nach dem OK-Kommando zügig und mit wenig Kauen hinunterschluckte, blieb ich stehen und schaute ihm zu. Mein Magen fühlte sich flau an. Nach dem letzten Bissen strich Remus mit seiner Zunge genüsslich (so sah es zumindest aus) über seine Schnauze, zu beiden Seiten mehrmals, und schaute mich dabei an, als wolle er sich für Speis und Trank bei mir bedanken. Ich lächelte flüchtig, tätschelte ihn am Kopf. Dann ging ich die Halbtreppe hoch und packte meinen vollen Rucksack aus.
In den nächsten Tagen war ich ziemlich für den Nationalpark eingespannt. Neben dem Monitoring verschiedenster Indikatoren hatten wir einige Schulklassen aus dem Tal zu Besuch; es bereitete mir große Freude, Wissen weiterzugeben und die Faszination vieler unbekannter Schätze zu vermitteln. Auf den Führungen bestand ein striktes Handyverbot, was nach anfänglicher Orientierungslosigkeit bei den Schülern dazu führte, dass sie ihre Umwelt wieder wahrnahmen. Die Arbeit war eine gute Ablenkung für mich. Auch das Draußensein half. Der Winter blieb ohne Schnee und ich blieb ohne Sven. Abends war ich oft todmüde, da ich neben der Arbeit im Nationalpark auch das Haus in Schuss halten und etwa Holz zum Heizen spalten musste. Es gab immer etwas zu tun. Handwerker gab es nur mehr wenige im Land und die wenigen, die es gab, „verirrten“ sich nie in die Bergregion, wenngleich die meisten von ihnen ursprünglich selbst aus einem höhergelegenen Dorf kamen. Damit hatte sich das Projekt „Wärmepumpe“ im Sommer nicht verwirklicht und sich vorläufig (oder langfristig) mit Sven und den fehlenden Handwerkern verabschiedet. Das war mir nicht unrecht, hegte ich schließlich seit meinen Teenagerjahren eine unerklärliche Skepsis gegenüber Technik.
Und doch ertappte ich mich immer wieder dabei, wie ich im Raum zum Handy schielte, das irgendwo lag, oder die Bildschirmtaste berührte, um zu sehen, ob ich eine Nachricht erhalten hatte. Von Sven. Von Anna. Von jemandem, mit dem mich etwas verband. Alleine zu leben hatte zwar viele Vorteile, aber den auch gravierenden Nachteil, leicht zu vereinsamen. Sicher hier oben. Abends erwartete mich ein ruhiges, manchmal sehr stilles Haus, in dem die eigenen Gedanken besonders laut und gut zu hören waren. Schnell passierte es, dass ein harmloses Nachdenken zu einer mitunter stundenlangen Gedankenschleife wurde. Wann immer ich mir dieser bewusst wurde, reute mich die verschwendete Lebzeit. Ich dachte an all die Menschen, die während meines Lebens gestorben waren. Carpe diem – nutze den Tag.
So raffte ich mich auf, um entweder etwas für den nächsten Tag vorzubereiten oder um mich mit „neutralerer“ Stimmung schlafen zu legen, um für den nächsten Tag gewappnet zu sein. Schließlich wollte ich den Weg gehen, ihn wohlüberlegt oder intuitiv aus der Fülle an möglichen Wegen wählen und ihn zu meinem eigenen machen. Und am Ende meines Weges wollte ich stolz und aufrecht zurückschauen können, der Erinnerung meines jüngeren Ichs zulächelnd.