20 Der Mensch dem Tier
Der Mensch dem Tier
„Hast du gehört, was gestern in den Nachrichten gekommen ist?“, fragte meine Mutter beim Mittagstisch.
„Nein“, antwortete ich kopfschüttelnd.
„Eine Kuh wollte nicht durch einen Gang laufen und da haben zwei Männer sie an ihrer Zunge festgebunden und ihr beim Ziehen die Zunge herausgerissen.“
Meine Hand, die gerade einen Löffel hielt und dabei gewesen war, die leckere Kartoffelcremesuppe zu meinem Mund zu führen, stoppte plötzlich in ihrer Bewegung. Ungläubig blickten meine Augen zu meiner Mutter, deren Gesichtsausdruck deutlich widerspiegelte, dass sie diese Grausamkeit, auch wenn für sie nicht mehr neu, noch immer abstoßend und schockierend fand.
Die Kartoffelcremesuppe, die sich in meinem Teller befunden hatte, hatte ihren Weg im Laufe des Essens dann doch noch in meinen Mund gefunden, doch der Gedanke an die herausgerissene Zunge lag wie ein beklemmender Stein in meinem Magen.
„Hast du etwas?“, fragte mich Sven abends. Wir saßen am Tisch und ich war seit meiner Rückkehr aus der Stadt nicht sonderlich gesprächig gewesen.
„Wie kommt ein Mensch nur auf so eine Idee? Und wie können zwei Menschen sie auch noch durchführen?“, warf ich am Ende meiner kurzen Erklärung zur Kuhgeschichte in den Raum.
„Ich weiß es auch nicht.“
„Die Sache widert mich an.“ Das war eine Untertreibung. Sie ließ mich vor meinem eigenen Menschsein ekeln. Es schüttelte mich. Ein bei lebendigem Leib gehäuteter Nerz, sein Fleisch zwischen zartrosa und rubinrot, dort, wo das Blut aus seinem gequälten Körper trat, seine Augen müde, regungslos, ertragend. Leidend. Verendend. Nie würde ich diese Videoaufnahmen des Dokumentarfilms „Earthlings“[1] vergessen, die mich vor rund 20 Jahren derart erschüttert hatten, dass ich meinen damals ohnehin spärlichen Fleischkonsum infolge gänzlich einstellte. Mir war der Appetit vergangen.
Sven machte eine Kopfbewegung, die irgendwo zwischen Nicken und Verneinen lag. Es gab darauf nicht viel zu entgegnen. Er aß selbst selten Fleisch, sein Motiv war primär der Umweltgedanke, doch auch er lehnte die moderne Massentierhaltung und industrielle Tierquälerei ab.
Ich dachte an Ernst, den Jäger im Dorf, dem ich letzthin mit Remus im Wald über den Weg gelaufen war.
„Grüß dich“, hatte er gesagt.
„Hallo“, hatte ich freundlich erwidert.
„Einen schönen Hund hast du da. Rasse?“
„Mischling. Ehemaliger Straßenhund.“ Pause. „Großer Jäger.“
Da hatte der vermutlich sonst stille und ernste Mann gelacht und die „Fremden-Distanz“ zwischen uns war abrupt erheblich kleiner geworden. Ich hatte nichts gegen Jäger, nichts per se. Im Gegenteil, ich fand ihren Zugang zum Fleischverzehr ehrlich. Töten war keine schöne Sache, für mich unvorstellbar, doch wer Fleisch aß, sollte auch den Preis dafür kennen und zu bezahlen bereit sein. So wie das bei indigenen Völkern eben der Fall war. Nur im 21. Jahrhundert waren wir „Industriestaaten“ so weit, dass immer mehr Menschen Skrupel hätten, ihre Hauskaninchen namens Frida und Klopfer zu verzehren oder beim Metzger aufgehängte Tierkörper im Verarbeitungsprozess zu Gesicht zu bekommen, aber kein Problem damit, in Styroporschälchen und Plastik abgepacktes, farbloses Fleisch zum Sonderpreis zu konsumieren oder zu billigen Fast-Food-Ketten zu gehen, deren Preise so niedrig waren, dass kein Zweifel bestehen konnte, dass die „Zutaten“ unter den minimalst möglichen Bedingungen erzeugt wurden.
„Zeigefinger“, meldete sich eine selbstkritische Stimme in mir.
„Ja, stimmt.“ Die allermeisten Menschen waren gegen Massentierhaltung und Tierquälerei. Zu sagen, dass es jedem Menschen zuzutrauen war, die eigene Rolle und Verantwortung bei Kauf- und Konsumentscheidungen anzuerkennen und wahrzunehmen, möglicherweise zu idealistisch.
„Es hat mich einfach so getroffen, diese Geschichte, so unerwartet als Neuigkeit aus der Region zu erfahren. Mein Schutzschild war nicht hochgefahren“, sprach ich laut zu Sven aus.
Er schwieg.
„Zu weich“, meldete sich wieder die selbstkritische Stimme in mir.
„Gar nicht!“, kam es trotzig zurück. Ohne Empathie – was sollte der Mensch da noch sein? Lieber war ich empathisch und litt selbst als zu so einer Tat fähig zu sein. Zog Konsequenzen, anstatt wegzusehen.
„Ich stelle mir jetzt dauernd diese arme Kuh vor, wie sie aus Schlauheit oder Dummheit, ich weiß es nicht, den Gang nicht hatte entlang gehen wollen. Und wie ihre Zunge…“
Da griff Sven über den Tisch meine Hand. „Tu das nicht, Leah.“
„Wegschauen kann nicht die Antwort sein.“
„Das ist sie auch nicht. Doch wir beide kaufen kein Fleisch aus schlechter Haltung. Vergiss das nicht.“
„Das ist nicht genug.“
„Es ist ein Anfang.“
Ich seufzte, nickte, seufzte noch einmal. Es tat gut, die schlechte Luft auszustoßen. „Ich gehe noch mit Remus raus“, sagte ich dann und stand auf.
Wenig später lief ich den Forstweg entlang, den wir gewöhnlich zur letzten Spazierrunde nutzten. Die Bilder und Gedanken kamen wieder, doch diesmal sagte ich mir wie ein Mantra vor, durch den Kauf zertifizierter tierischer Produkte bzw. durch den Direktkauf bei Bauernhöfen, deren Tierhaltung ich vor Ort sehen konnte, alles zu tun, was ich tun konnte, um Tierwohl zu fördern. Nach einer unbestimmten Zeit gelang es mir, den Gedankenstrom zu beruhigen. Ich hatte gar nichts vom Wald wahrgenommen und hob nun den Blick, musterte Baumstämme, das Moos, das an ihnen haftete, austreibende Knospen, auffällige Verästelungen; hörte Vogelstimmen, manche nah, andere ferner, kurze und lange Melodien. Schließlich nahm ich einen tiefen Atemzug, sog den Waldgeruch in mich ein und nun die trüben Gedankengefühle in einem tiefen Schnaufer wirklich aus. Das tat gut. Und beim nächsten Einatmen durchströmte mich vollends der Wald mit seinem heilsamen frischen Harzduft der Abendluft.
[1] Ab 16 Jahren: https://www.earthlings.de/
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