16 Schein und Schutzgebiete
Schein und Schutzgebiete
Das Verwaltungsgebäude war weder alt noch neu, weder einladend noch unfreundlich. Es war einfach funktional und das war in Ordnung. Mit der ruhigen Stimmung von der frühen Seestunde in Körper und Geist trat ich ein und erkundigte mich am Empfang nach dem Büro der Naturschutzabteilung. In derartigen Situationen war ich normalerweise furchtbar aufgeregt, auch wenn mir das scheinbar nie anzumerken war. Diesmal war es anders. Ich war nicht mehr das unsichere, schüchterne Mädchen von damals. Und die Welt war nicht mehr der Planet der menschlichen Wirtschaftswunder und Ignoranz.
Die Naturschutzabteilung befand sich im dritten Stock, am Ende des langen, weißen Flurs, und bestand aus drei klassischen Büros, von denen zwei mit drei Mitarbeitenden und eines mit einer Mitarbeiterin und dem Leiter besetzt waren. Noch. Denn es gab „größere“ Pläne für die Naturschutzabteilungen des Landes, in ganz Österreich, ja in allen Staaten der Europäischen Union. Zwei Jahre nach der verheerenden Hitzewelle in 2027 war ein neues Gesetz verabschiedet worden, das vorsah, die Fläche der Naturschutzgebiete in der EU zu verdoppeln. Der politische Widerstand hatte sich in Grenzen gehalten, schlicht, weil es nicht mehr dem Zeitgeist der klimaerwärmten Postmoderne entsprach, den Handlungsbedarf im Klima-, Natur- und Artenschutz herunterzuspielen oder aufzuschieben. Allerdings hieß das keineswegs, dass politische Entscheidungsträger und mit ihnen die Mehrheit der Bevölkerung alles daransetzte, größtmögliche Wirkung zu erzielen. Nein, vielmehr wurde – wie es schon seit den 2010er Jahren und noch mehr in den 2020er Jahren gang und gäbe war, der Weg des größten Scheins mit möglichst wenig realer Wirksamkeit gegangen. Der bequemste Weg – der Weg ohne persönliche oder wirtschaftliche Einbußen.
Dies bedeutete oftmals, ländliche und von der Bevölkerung verlassene, „ent-wohnte“ Gegenden zu Schutzgebieten niedrigen Ranges zu erklären. Das Ergebnis war eine verschönte Statistik der geschützten Flächen mit kaum lokal veränderten, verbesserten Bedingungen für die Natur. Doch ein Nationalpark war eine andere Kategorie. Die detaillierten Schutzbestimmungen unterschieden sich zwar von Bundesland zu Bundesland und zwischen den Staaten, doch gehörte ein Nationalpark der zweithöchsten Schutzkategorie der Weltnaturschutzunion (IUCN – International Union for Conservation of Nature and Natural Resources) an. Sein primäres Ziel war es, die Biodiversität mit ihren ökologischen Zusammenhängen sowie natürlichen Prozessen zu bewahren und Erholungs- sowie Bildungsaktivitäten zu fördern. Nur die erste Kategorie – „strenges Naturreservat und Wildnisgebiet“ – war noch stärker geschützt. In der Kernzone des Nationalparks, wo der Schutz der Natur in ihrer Gesamtheit Vorrang innehatte, war jeder Eingriff in die Natur wenigen Ausnahmen verboten. Das Garden- und Himmeltal mit den dazugehörigen Gebirgsgruppen Vaschiga, Ruger Alpen und Grünaungruppe sollte zum Garden-Himmel-Nationalpark werden; und seine Voraussetzungen waren gut. Aus diesem Grund war ich hier.
Ich klopfte an die Tür des Büros mit dem Abteilungsleiter. Dieser – ein unscheinbarer, leicht untersetzter Mann um die 50 stand auf und ging auf mich zu.
„Gerhard Steiner“, sagte er und streckte mir die Hand entgegen.
„Leah Waldhof“, erwiderte ich mit einem nicht minder festen Händedruck.
Das Gespräch lief wie Bewerbungsgespräche eben so liefen. Mein agrarökologischer Hintergrund entsprach nicht ganz ihrem Bewerber-Wunschprofil, dafür brachte ich diverse andere Qualifikationen mit. Gab es „fachreine“ Biologen, womöglich Wildbiologen mit mehr Erfahrung im Monitoring? Dann war ich draußen. Andererseits würde mehr als eine Stelle entstehen. So ein Nationalpark war groß, seine Anforderungen zum Monitoring, zur Verwaltung und dem Lenken von Besucherströmen mannigfaltig.
„Haben Sie noch Fragen?“, fragte Leiter Steiner gegen Ende des Gesprächs. „Ja“, antwortete ich prompt, „wie viel Widerstand erwarten Sie von der Landwirtschaftskammer – ganz ehrlich?“
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