17 Was die Wildnis ruft
Was die Wildnis ruft
Das trockene Laub knirschte unter meinen Tritten. Ich saugte das Geräusch ein wie die kühle, frische Waldluft, dankbar und etwas gierig, beinahe wie ein Mensch, der zu lange unter Wasser gewesen war und an der Wasseroberfläche endlich nach Sauerstoff schnappte. Remus‘ Pfoten waren sanfter, lautloser, wenngleich sein Atem in schnellen Zügen ging. Der Jäger in ihm warf die Nase einmal hier, einmal dorthin, für mich unsichtbaren Duftspuren im Wind folgend, und seine Augen ließen immer wieder auch seinen Körper verharren, durch die Baumstämme in die Ferne suchend, fixierend. Der Pfad war schmal und steil, ein wenig begangener Wurzelweg, der teils von Brombeeren gesäumt war, deren Stacheln am Stoff meiner Wanderhose lechzten (diese war glücklicherweise keine der „ultra-lighten“ und damit auch leicht zerreißbaren Sorte).
So ganz genau wusste ich nicht, wo ich war, nur ungefähr. Natürlich hätte ich mir mit GPS-Ortung mehr Orientierung verschaffen können, doch diesen ersten bewussten Gang im zukünftigen Himmel-Garden-Nationalpark wollte ich ohne großartige technische Hilfsmittel erleben, einen Teil des Gebiets zumindest allein mit den mir zur Verfügung stehenden Sinnen erkunden. Das war für viele ein Zeichen von Altmodisch-Sein. Für mich war es eine notwendige, gelegentliche Rückkehr zu den Körpersinnen, die sich klärend auf den so von der Technik vereinnahmten Geist auswirkte und auch diesen frei atmen ließ.
Wir gingen Schritt für Schritt, Stunde für Stunde, passierten Bäche im Wald, aus deren kleinen Becken Remus seinen Durst stillte, sahen zuerst drei Rehe, später, den Wald verlassend, eine größere Gruppe von Gämsen in der Felswand. Der Moment, wenn sich der Wald lichtet, das Tor in die alpine Stufe, ist stets ein besonderer. Man kann noch so viel gewandert sein in seinem Leben, diese Weitsicht und doch Nahsicht, die geöffnete Berglandschaft, der Wechsel von weitem Bergpanorama und nahen Hängen und Bergspitzen, bleibt grandios und erhaben und erhebt jeden trüben Gedanken. Wir gelangten bald zu einem Kamm und liefen ihn entlang. Ich konzentrierte meinen Blick wieder mehr auf den direkten Weg vor mir, dem Grat folgend. Remus blieb immer wieder stehen, um in die Tiefe zu blicken und nach dort in den Hängen verweilendem Wild zu suchen. Anfangs war ich versucht, mich zu fragen, warum wir Menschen den Zugang zu Erlebnissen wie diesen so schnell vergessen konnten. Solche Momente nicht zu erfahren, schien hier oben inmitten davon ein großer Verlust. Doch die unberührte Natur um uns war so vereinnahmend, dass dieser Gedanke bald keinen Platz mehr hatte. Wir waren jetzt hier, das war alles, was jetzt und hier zählte.
Am Gipfel angekommen aßen wir hungrig. Für Remus hatte ich etwas Futter und Wasser in meinem Rucksack hochgetragen wie für mich zwei Brötchen. Ich hatte riesigen Hunger. Remus sowieso. Der Wind pfiff um den Gipfel, ich machte meine Jacke zu und zog den Kragen hoch. So saßen wir eine Weile, über Berggipfel blickend, den ziehenden Wolkendecken nachblickend. Bald flog ein Schwarm Alpendohlen nah an uns vorbei, weiter in der Ferne meinte ich einen kreisenden Steinadler zu erkennen. Es war so wunderschön ruhig ohne Motorenlärm, die Luft so wunderbar sauber, man konnte nicht anders, als tiefere Atemzüge zu nehmen. Anstelle von Asphalt und Beton, Schaufenstern und Autos war hier eine Welt voller Vielfalt zu sehen, waren die verschiedensten Lebensräume miteinander verwoben. Es war unmöglich, sich hier nicht als Teil des Ganzen zu begreifen.
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