9 Weggespült
Was einen gewaltigen Regenschauer macht
Der Regen hörte nicht auf. Auf den Feldern und Wiesen stand das Wasser in enormen Pfützen und verwandelte das Landschaftsbild. Wo man hintrat, lagen gestrandete Regenwürmer, die dem Ertrinkungstod entflohen waren. Die Schnecken, derweil, frönten dem anhaltenden Tropfwetter. Einer gigantischen Invasion gleich war nichts mehr vor ihnen sicher. Selbst in Stadtgärten erreichten ihre Zahlen nie dagewesene Höhen. Sie krochen Hauswände und Fensterscheiben empor, überzogen Terrassenböden und Sitzgarnituren mit hartnäckigen Schleimspuren.
Eine Schwere packte mein Gemüt, wie ich es sonst nur aus dunklen Herbsttagen kannte. Der trübe Himmel, der tatsächlich viel eher einem herbstlichen Nebeltag entsprach denn einem beginnenden Sommer, half nicht. Er untermauerte die Weltuntergangsstimmung in der Welt. In mir. Irgendwie – irgendwann, irgendwo – war mir die Hoffnung erneut abhandengekommen.
An einem meiner von der regulären Arbeit freien Morgen las ich die Zeitung und stoß dabei auf einen neuen Begriff: „Hot House“. So nannte die Wissenschaft jetzt das um fünf Grad heißere Haus Erde, das sie nach den Kipppunkten erwarteten. Fünf Grad. Fünf.
Doch es war nicht die Aussicht auf 40°C Dauerhitze im Sommer, die mir die Hoffnung stahl. Es war der Mensch. „Der Mensch“, das war kein Mensch im Speziellen, im Einzelnen. Es war mehr die kollektive Gleichgültigkeit aller Menschen. Es war das „I don’t care“, das „Ist-mir-egal“, das stolz auf der Stirn prangerte, selbstverständlich, geradezu humorvoll und lässig über die Lippen kam. Oder das sich feige hinter Aussagen der Bequemlichkeit oder Ausreden des Typs „In China…“ oder „Wenn die Amerikaner…“ versteckte.
Jeder dieser Einstellungen war ein einzelner Regentropfen und im Grunde bedeutungslos. Doch alle zusammen ergaben einen gewaltigen Regenschauer, der die Erde überzog und meine Hoffnung hinwegspülte.
Weiter zum nächsten literarischen Beitrag