Frühstück bei TOM und MIA
Frühstück bei TOM und MIA
Hier ist die Zeit stehen geblieben. Ich liebe diesen Ort. Auf diesem Bauernhof bin ich groß geworden. Nach langer Zeit bin ich endlich wieder einmal hier.
Oma sagt, dass es heute – so wie immer – das TOM-Frühstück gebe, was soviel heißt wie „Traditionelles-Oma-Mama“-Frühstück. Während Oma und Mama den alten Holztisch im Freien herrichten, setze ich mich zu Opa. Er müsste jetzt 95 sein, wenn ich mich auf die Schnelle nicht verrechnet habe. Er sei nicht mehr richtig im Kopf, sagen die Nachbarn. Für mich ist er genau richtig, was sein freundliches Lächeln beweist, das er mir stets zur Begrüßung schenkt – seit über 40 Jahren. Opa kann sehr lange ohne Unterbrechung lächeln. Als er damit fertig ist, meint er: „Gestern war ich beim Auto-Sepp. Ich will ein Auto kaufen. Aber das wird nichts.“
„Grüß dich, Opa! Warum nicht?“
„Der Sepp hat kein Auto mit einer Fensterkurbel. Das wird nichts. Alles elektrisch. Ich will kurbeln!“
„Versuch es einfach nächste Woche noch einmal, Opa“, antworte ich. Der Tisch ist gedeckt. Alles steht so wie immer auf dem immer gleichen Tisch:
Wasser aus dem Brunnen – der Brunnen ist vom Tisch 30 m entfernt;
Minztee mit Minze aus dem Kräutergarten – 40 m entfernt;
Butter, Joghurt und Milch aus der Dorfsennerei – 300 m entfernt;
Eier aus dem Hühnerstall – 20 m entfernt;
Zwetschkenmarmelade mit Zwetschken vom Baum in der Wiese – 25 m entfernt;
Honig von Bertls Bienenstock – 500 m entfernt;
Tomaten aus dem Gemüsegarten – 30 m entfernt;
Omas Brot, selbst gebacken, mit Mehl vom Kaspar-Bauern – 5 km entfernt;
Brombeeren aus dem Wald – 600 m entfernt;
Mamas Nussgipfel mit Haselnüssen aus dem Wald – 400 m entfernt.
Alles, was hier auf dem Tisch steht, hat zusammen einen Weg von etwa 7 km zurückgelegt.
„Er bekommt dieses Frühstück seit Jahrzehnten“, sagt Oma, „aber er bekommt kein Auto mit einer Fensterkurbel“. Naja, irgendwie verstehe ich sie, obwohl Opa jetzt traurig wirkt. Ich wechsle lieber das Thema: „Morgen bin ich bei Leo wegen des Klassentreffens. Mama, weißt du, wen ich meine? Der, der sich immer über Tonis Stottern lustig gemacht hat.“
„Ja, den kennt hier jeder“, antwortet Mama, „aber Bub, jetzt iss erstmal in Ruhe dein Frühstück“.
„Leo ist ein Angeber“, wirft Oma ein, „so, wie sein Vater. Jetzt hat er sogar einen Sportwagen“.
„Mit Fensterkurbel?“, fragt Opa. Er lächelt wieder.
„Nein, bestimmt nicht“, sagt Oma.
„Dann wird das nichts“, bekräftigt Opa mit erhobenem Zeigefinger.
Jetzt nimmt sich Opa ein Ei und schlägt es auf seinem Kopf auf. Seit er das macht, werden die Eier immer hartgekocht.
Meine Oma hat recht, der Lamborghini hat keine Fensterkurbel. Er steht blitzblank geputzt auf dem Hof, als ich zusammen mit einigen ehemaligen Klassenkameraden zu Leos Anwesen komme. Nach dem üblichen Wie-geht-es-dir-Blabla zeigt uns Leo stolz sein Frühstücksbuffet. Es ist wie erwartet das MIA-(„Mega-International-Abwechslungsreich“)-Frühstück:
Wein aus Frankreich – 1.000 km entfernt;
Sekt aus Italien – 1.000 km entfernt;
Mangosaft mit Mangos aus Brasilien – 9.500 km entfernt;
Orangensaft mit Orangen aus Spanien – 2.000 km entfernt;
Nüsse aus Kolumbien – 9.500 km entfernt;
Ananas aus Afrika – 6.500 km entfernt;
Oliven aus Griechenland – 1.500 km entfernt;
Schafkäse aus der Türkei – 2.500 km entfernt;
Parmesan aus Italien – 1.000 km entfernt;
Camembert aus Frankreich – 1.500 km entfernt;
Gauda aus Holland – 1.000 km entfernt;
Lachs aus Kanada – 7.000 km entfernt;
Thunfisch aus Japan – 9.000 km entfernt.
Die Zwischensumme ergibt jetzt schon 53.000 km, aber das ist noch lange nicht alles.
Helga beobachtet mich und flüstert ihrer ehemaligen Sitznachbarin schon verdächtig etwas ins Ohr, während ich das Buffet mustere. So wie früher, wenn ich ihrer Meinung nach etwas angestellt hatte.
Als sich Leo neben mir eine Sektflasche schnappt, frage ich ihn: „Weißt du, dass dein Frühstück mehrere Male die Erde umrundet hat, bevor es hier angekommen ist?“
„Ah, cool, wow, klingt mega“, antwortet er, „aber wie meinst du das jetzt genau?“
Während er den Korken von der Alufolie und dem Draht befreit, überlege ich kurz, wie ich die Antwort unaufdringlich formulieren könnte. Es erscheint mir ziemlich unpassend, jetzt etwas über Umweltschutz und Nachhaltigkeit zu sagen. In diesem Moment erhebt sich der Sektkorken mit einem lauten Knall in die Luft, um kurz darauf auf dem Rücken der Peking-Ente zu landen, die über dem Grill brutzelt. Leo hat keine Zeit meine Antwort abzuwarten, sondern fordert lautstark alle auf, sich ein Sektglas zu holen, um auf das grandiose Wiedersehen anzustoßen.
Nach seiner Schön-dass-ihr-alle-da-seid-Ansprache, ruft er enthusiastisch: „Das Buffet ist eröffnet, lasst es euch schmecken!“ Mit einer überschwänglichen Handbewegung von den Retro-Schülern zum Buffet sorgt er dafür, dass der Kopf des Spanferkels, das fertig gegrillt auf dem Tisch liegt, etwas Sekt aus seinem Glas abbekommt. Wir sollen die neuseeländischen Austern und die amerikanischen Hummer besonders genießen, meint er. Sein Zeigefinger deutet auf einen großen Topf. Ah, darin ist das kochende Wasser für die noch lebenden Hummer. Nach der üblichen Minute des scheinbar höflichen Wartens, opfert sich Resi, sich als erste am Buffet zu bedienen. Jemand müsse ja den Anfang machen, lässt sie uns gekünstelt schüchtern wissen.
Meine Vintage-Schulfreunde unterhalten sich angeregt, während sie die Köstlichkeiten in sich hineinstopfen. Leo ist voll in seinem Element, besonders als er eine Schallplatte aus der Jugendzeit auflegt. Als „We are the Champions“ aus dem gigantischen Lautsprecher ertönt, macht sich eine Katze mit dem linken Ohr des Spanferkels auf und davon.
„Der Mega-Champagner und der Giga-Kaviar sind oberaffengeil“, brüllt Rudi in die Menge. Rudi war im Klassenzimmer der lauteste Lacher, wenn uns Leo mit seinen hyperintelligenten Sprüchen beglückt hatte. Ein paar Auserwählte dürfen nach der ersten Fressrunde mit auf eine Probefahrt mit dem Lamborghini. Trixi sitzt vorne, auf sie hatte Leo immer schon ein Auge geworfen. Der Sportwagen heult laut auf, als ich mich aus dem Staub mache. Die vor Bewunderung nickenden Köpfe verschwinden im Lamborghini, daher bleibt meine Flucht unbemerkt.
Beim Zurückgehen denke ich an meinen Opa. Er schlägt sich sein Frühstücksei auf seinem Kopf auf und findet Fensterkurbel-Autos besser als Leos Lamborghini, der gerade mit ohrenbetäubendem Lärm an mir vorbeidonnert.
Ich werde ein Fensterkurbel-Auto besorgen. Dann wird mich Opa zu unserem nächsten Klassentreffen bei Leo begleiten dürfen. Wir werden das Fensterkurbel-Auto neben dem Lamborghini parken. Wenn sich Opa dann ein Ei nimmt, werde ich ihm ins Ohr flüstern, dass er es auf Leos Kopf aufschlagen dürfe.
Als ich zum Hof zurückkehre, sitzt Opa am immer gleichen Tisch. Er lächelt mich an, so wie immer.
„Opa, morgen will ich zum Auto-Sepp, du weißt schon, wegen dem Kurbelauto. Kommst du mit?“
Opa strahlt über das ganze Gesicht.
Wie schön, dass manchmal die Zeit stehen bleibt.
Zur Person:
Roland Manzl, geboren und aufgewachsen in Dornbirn/Vorarlberg. Nach dem Lehramtsstudium in Feldkirch unterrichtete er für mehr als 30 Jahre an einer Mittelschule im Bregenzerwald. Seit 2016 verfasst er Texte, in denen er den paradox lebenden Menschen hinterfragt, der durch sein materialistisches, narzistisches Handeln sich selbst und dem gesamten Planeten einen Bärendienst erweist.
In seinem ersten Buch „Noch drei Tage“ erfährt der Leser aus der Perspektive einer alten Holzbank in den Dornbirner Achauen, wovon die Zufriedenheit und das Glück der Menschen, die die Bank besucht haben, abhängig war. Die Holzbank blickt auf ihr Leben zurück und erzählt von den bewegendsten Momenten ihres Daseins.
Ein steinreicher Investmentbanker aus der Schweiz findet in „Notausgang zum Glück“ erst in einem kleinen Bregenzerwälder Dorf auf spektakuläre Art und Weise sein Glück, nachdem er sich von seinem Zwang, immer noch reicher zu werden, befreit hatte. In seinen Büchern und Kurzgeschichten verlassen wir manchmal unsere bequeme eigene Welt und nehmen neue Perspektiven ein, um einen Gedankensprung auf das Große und Ganze zu wagen.