19 Vermächtnis
Vermächtnis
Es war noch dunkel und die Welt still, der Kopf noch nicht ganz wach (die Sorgen noch nicht ganz da).
Moment einmal.
Dies war nicht das Schweigen der Stadt. Etwas war anders. Ich schlug die Augenlider auf und blickte zur Decke. Keine Straßenlaterne warf ihr schwaches Licht durchs Fenster.
Ein Bild tauchte vor meinem inneren Auge auf – ein altes Haus, am Fuß eines Berges, dahinter ein Wald. Ich erinnerte mich. Wir waren nicht mehr da. Wir waren gegangen, hatten nicht einen, hatten hunderte Schritte gewagt. Ein Lächeln flog über mein Gesicht, wie ein Vogel, der plötzlich über eine Lichtung flog. Niemand konnte dieses Lächeln sehen, doch meine Mundwinkel begrüßten es wie einen Guten-Morgen-Kuss. Zufrieden mit dem Moment konnte ich noch eine Weile liegen bleiben; keine Unruhe trieb mich aus dem Bett. Ich ließ die Gedanken kommen und gehen, bis draußen der Morgen erwachte und mit ihm ein neuer Tag. Ein Tag voller Leben.
Sven war für einige Tage beruflich verreist. Remus lag eingerollt auf seinem Hundekissen in der Wohnstube. Sein leichtes Schnarchen drang leise durch die Tür zur Küche herein, wo ich am Tisch saß, ein Marmeladebrot aß und eine Tasse Tee trank. Die Wärme von innen tat gut, die frühen Stunden im Haus waren etwas kühl.
Der Tag verging ohne nennenswerte Ereignisse, ich brachte ihn hauptsächlich mit „Bürosachen“ zu, doch – zum Glück – ohne langwierige statistische Datenanalysen. Nicht nehmen ließ ich mir einen ausgiebigen Mittagsspaziergang im frisch angezuckerten Wald (Remus, überglücklich, steckte sofort seine Nasenspitze in jeden Schneehaufen, den er fand, und nahm sehnsüchtig jede Fährte von Wild auf, bis zum Ende der Reichweite seiner langen Leine).
Der Abend war still, ein wenig zu still vielleicht. Beim Abendessen blickte ich leicht verloren in den leeren Raum und dachte zunächst an vergangene „gesellschaftliche“ Zusammenkünfte, an Spieleabende mit Freunden, berufliche Essen, Geburtstage, … Die meisten Geburtstagseinladungen im Familienkreis waren mir als anstrengend in Erinnerung geblieben. Man hatte notdürftig Zeit frei geschaufelt (das heißt, man ging bereits gestresst zum Geburtstagshock, weil man davor schnell noch Dinge fertig hatte machen müssen und weil man sich genau darüber im Klaren war, dass man danach noch dieses und jenes Versäumte aufzuholen hatte) und ließ erstmal hauptsächlich den „neuesten“ (eigentlich altbekannten, weil immer wiederkehrenden) Smalltalk über sich ergehen. Man vermied mühsame Diskussionen mit dominanten, rechthaberischen Verwandten und Bekannten, tat unsensible als witzig empfundene „Sprüche“ mit einem notgedrungenen Lachen ab und schluckte unbemerkt so manche rassistische, einseitige Meinungsäußerung hinunter.
Nein, diese Art von Zusammentreffen würde ich wahrlich nicht vermissen. Natürlich gab es auch schöne Erinnerungen – von ausgelassenen, lustigen gemeinsamen Stunden mit Freunden oder wenigen, besonderen Menschen aus dem Familienkreise. Leider schienen mir diese Erinnerungen vergleichsweise in der Unterzahl. Die „tiefen“ Gespräche entstanden fast ausschließlich im „Zwiegespräch“, im Dialog – und eben auch nur mit bestimmten Menschen, mit denen man durch etwas Tiefgehendes verbunden war (es reichte in dieser modernen Welt irgendwie nicht, zur gleichen Zeit am gleichen Ort zu sein, um sich zu verbinden).
All diese Gedanken erzeugten ein gewisses unbehagliches, melancholisches Gefühl in mir, das aber wieder verschwand, sobald ich im Sessel neben dem Kamin meine Lektüre von Jared Diamonds „Vermächtnis. Was wir von traditionellen Gesellschaften lernen können“ wieder aufnahm und dabei die behagliche Wärme vom Feuer durch meine Kleidung hindurch spüren konnte. Der Biogeograph hatte viele Jahre bei und mit „unzivilisierten“ Stämmen gelebt und ihre Kultur erforscht. Es war hochinteressant, seine Vergleiche und Analysen der Vor- und Nachteile traditioneller Lebensweisen zu lesen. Bemerkenswert waren für mich die Entfernung zwischen diesen Kosmen menschlicher Kulturen und die Geschwindigkeit, mit welcher sie weiter zunahm. Mit allen technischen Errungenschaften und Erleichterungen, die uns ein bequemes Leben in einem Ausmaß ermöglicht hatten, wie es sich keine andere Lebensform auf der Erde auch nur erträumen könnte, traten aber die sogenannten Zivilisationskrankheiten (auch „Wohlstandskrankheiten“ oder „Lebensstilkrankheiten“) auf; also Krankheiten, die durch die mit der Zivilisation verbundene Lebensweisen hervorgerufen werden, wie Fettleibigkeit, Herz-Kreislauf-Erkrankungen (Bluthochdruck, Herzinfarkte, Schlaganfälle, etc.), Krebs[1], Diabetes, Depressionen und Angstzustände.
War das der Preis, den wir als Gesellschaft für diese Annehmlichkeiten zahlen mussten? Die Kehrseite der Goldmedaille? Dieser Vergleich hinkte. Die Kehrseite der Goldmedaille waren doch sicherlich die Opfer, die den Medaillenträger Disziplin und Fleiß abverlangten, oder vielleicht auch das Phänomen, das ich als „Einsamkeit der Spitze“ zu bezeichnen pflegte. Doch hatten wir Einzelpersonen wirklich dazu beigetragen? Waren wir heute nicht nur noch Nutznießer der Anstrengungen früherer Forscher und Entwickler?
In gesellschaftlichen Diskussionsrunden – allen voran bei Tischgesprächen von Geburtstagsfeiern im Familienkreise – machte man sich nicht beliebt, den, wie gemeinhin deklariert, weiterhin stattfindenden Fortschritt infrage zu stellen. Sofort galt man als erzkonservativ, altbacken, ja rückständig. „Die will zurück in die Steinzeit“, scherzte dann eine Tante, beispielsweise (selbstverständlich hatte ich längst damit aufgehört, meine Meinung in solcher Umgebung zu offenbaren).
Gab es für Menschen denn immer nur Schwarz und Weiß? Ihren eigenen, richtigen Standpunkt und den fremden, falschen? War der „wissende Mensch“ Homo sapiens im 21. Jahrhundert, nach Jahrtausenden kultureller Entwicklungsgeschichte, genau zu diesem „binären“ Grad der Differenzierung fähig? Schwarz oder Weiß, Ja oder Nein, gut oder schlecht, neu oder alt, … ?
Am Ende des Buches beschrieb Jared Diamond, wie er 93% seiner Lebenszeit im pazifischen Neuguinea verbringt und 7% in den Vereinigten Staaten von Amerika. Physisch. Diamond berichtete nämlich auch, wie viel Zeit er emotional mit dem Leben seiner „traditionellen“ Freunde in Neuguinea verbunden war, auch wenn er sich in den USA aufhielt („einen großen Teil meiner Zeit und meiner Gedanken“).
Das Herz, dachte ich mir, weiß schon, wo es sich öffnen und atmen kann. Und Jared Diamond weiß es auch.
Der Tag war ein etwas einsamer Tag geworden, doch als ich das Buch schloss und mich zum Schlafengehen aus dem Sessel erhob, merkte ich, dass ich mich nicht einsam fühlte und dankbar dafür war, die Gedanken mit einem Menschen wie Diamond selbst in Form eines Buches geteilt haben zu dürfen.
[1] Bestimmte Krebskrankheiten (z.B. Lungen-, Darmkrebs)
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