Life is for rent
Im Polizeibericht steht, dass es am 29.9.2018 um 11:45 Uhr war, als du mich mit deinem Motorrad auf einer Landstraße in Süddeutschland überholt hast. In dem kurzen Moment, als ich dich links neben mir vorbeifahren sah, wusstest du noch nicht, dass du in wenigen Augenblicken sterben würdest. Noch drei Sekunden bis zum Aufprall.
Du wusstest nicht, dass ein Richter entscheiden würde, dass du zu 25% selbst an deinem unmittelbar bevorstehenden Tod schuld sein würdest und zu 75% der Fahrer im Auto vor mir, der in wenigen Augenblicken nach links abbiegen wird.
Du, ein Mann in den Fünfzigern aus Lindau, ich, ein Mittelschullehrer aus dem Bregenzerwald.
Außerdem wusstest du in diesem Moment noch nicht, dass dich meine Erste-Hilfe-Kenntnisse, die ich jahrelang selbst meinen Schülern beigebracht hatte, nicht mehr retten können. In den Kursen habe ich die Reanimation an Puppen vom Roten Kreuz demonstriert, doch dieses Mal wirst du es sein. Wir werden uns beide erfolglos gegen deinen Abschied von dieser Welt wehren.
Was hättest du alles sagen wollen, wenn du gewusst hättest, was in der nächsten halben Stunde passieren würde? Denn dann wird auch der Notarzt den Kampf um dein Leben aufgeben müssen, nachdem der dreimalige Versuch, dein Herz mit einem Defibrillator wieder zum Schlagen zu bringen, scheitern wird. Er wird deinen leblosen Körper unter einer blauen Decke alleine am Straßenrand liegen lassen, einen Totenschein ausstellen und diesen dem Einsatzleiter der Polizei übergeben.
Was hättest du uns nun im letzten Moment deines Lebens mitteilen wollen? Wahrscheinlich viel Persönliches, vielleicht aber auch:
Life is only for rent and now I have to leave.
Nun bin ich an dem Punkt angelangt, an dem ich nicht ungern jenen 1,2% der Weltbevölkerung, die 47,8% des weltweiten Vermögens ihr Eigen nennen, meine Meinung auftischen würde.
Es geht nicht nur um jene, die in Privatjets zu ach so wichtigen Meetings unterwegs sind oder die Schifahrer, die sich mit dem Heli auf den Berg fliegen lassen. Es geht auch um jene, die sich stolz der High Society zugehörig fühlen und vor allem um jene, die diesem Lebensstil der Reichen und Schönen nacheifern.
Sie zeigen sich gerne in ihren Protzautos, in Nobelorten, auf Luxusreisen oder beim Shoppen. Bei Events stehen sie in der ersten Reihe, um gesehen und bewundert zu werden. Sie kaufen sich Luxusgüter aller Art und legen ihr Geld beispielsweise in Betongold an. Welche Folgen ihr Ressourcenverbrauch für die Erde oder die ausufernden Immobilienpreise für den “Normalsterblichen” hat, scheint sie kaum zu interessieren, solange die Kasse klingelt und die Bewohner ihrer Wohnungen brav ihre Miete zahlen.
Gegen die Argumente, dass sie selbst ebenso für ihren ökologischen Fußabdruck im Sinne von „Your life is for rent“ bezahlen sollten, sind sie längst resistent oder sie rechtfertigen sich damit, die Wirtschaft anzukurbeln und Arbeitsplätze zu schaffen (unter anderem kann auch ein Krieg die Wirtschaft ankurbeln und die dahinter stehende Rüstungsindustrie viele Arbeiter beschäftigen). Auch das Argument, dass sie hohe Steuern zahlen, geht ins Leere, denn jedem Kind ist klar, dass es besser ist, etwas Schädliches zu unterlassen, als es aus egoistischen Gründen einfach zu tun, mit dem Argument, es nachher wieder irgendwie auszubügeln. Zahlen und Fakten werden entweder ignoriert oder geschönt, denn es geht sich bei Weitem nicht aus, den Schaden, den beispielsweise eine Flugreise anrichtet, auch nur ansatzweise durch die mickrigen Steuern, die dafür zu bezahlen sind, auszugleichen. In der gesamten EU gibt es noch immer keine Kerosinsteuer, obwohl die Umweltschäden durch die in großer Höhe ausgestoßenen Schadstoffe um ein Vielfaches größer sind.
Im Bericht „Millionen Tonnen Treibhausgase durch Privatjets“ von tagesschau.de wird festgestellt: „Fast drei Viertel der Privatjet-Flüge von deutschen Flughäfen gehen zu Zielen, die weniger als 500 Kilometer entfernt sind. Etwa 60 Prozent der Strecken sind sogar kürzer als 300 Kilometer.“
Die CO2-Belastung in gut einer Flugstunde entspricht dabei dem Durchschnittswert eines Deutschen für ein ganzes Jahr! Fast die Hälfte sind Leerflüge, um irgendwo jemanden abzuholen. Die Anzahl dieser Privatjet-Flüge stieg 2022 auf ein Allzeithoch von fast 95.000 Flügen alleine in Deutschland.
Da die Politik diesem Treiben tatenlos zusieht, können die Nutznießer diese Flüge als legale Möglichkeit der freien Marktwirtschaft bezeichnen. Ich nenne es Ignoranz, Arroganz und Egoismus.
Der Gerichtspsychiater Reinhard Haller schreibt in seinem Buch „Die Narzissmusfalle“: „Die Gier nimmt mit dem Zuwachs von Ruhm und Reichtum nicht ab, sondern zu. Sie ist unersättlich und grenzenlos. Gier ist nicht Krankheit, sondern Charakterschwäche. Die Gier endet nie, solange ein anderer mehr hat.“
Der „Schaut-mal-wie-cool-ich-bin- Lebensstil“ relativiert sich augenblicklich im Angesicht des Todes. Todsicher! Egal, ob das Auflehnen gegen den Abschied drei Minuten dauert, wie beim Motorradfahrer oder drei Jahre, wie bei meiner Mutter. Auch bei jenen, die sich stolz zu den Top-1% der Vermögenden zählen dürfen, wird es irgendwann soweit sein, der Tag x wird kommen. Nein, dieses Mal ist es nicht möglich (wie schon so oft), mit Geld irgendwas zu richten oder zu verhindern. Und es gibt keine Ausnahme. Keine einzige! Dann werden alle Statussymbole, für die soviel Zeit, Energie und Ressourcen ver(sch)wendet wurden, keinen Cent mehr wert sein.
Jeder Mieter weiß, dass er die Wohnung wieder sauber verlassen muss, wenn er auszieht und schon als Kind wurde mir beigebracht, auf etwas Geliehenes gut aufzupassen und es in gleich gutem Zustand wieder zurückzugeben. Und beim Zurückgeben solle ich das Zauberwort – danke – nicht vergessen, meinte meine Mutter. Gilt das nicht auch, wenn wir unsere Erde eines Tages wieder verlassen müssen?
Dido singt in ihrem Song „Life is for rent“: „Cause nothing I have is truly mine.“ Wie wahr!
Meine persönliche Definition – aus einem nicht veröffentlichen Buch – was einen glücklichen Menschen ausmacht, lautet: „Ein glücklicher Mensch macht meist einen zufriedenen Eindruck und begegnet seinen Mitmenschen mit ehrlicher Freundlichkeit. Außerdem ist ein glücklicher Mensch in der Lage, sich an vielen Kleinigkeiten des Alltags immer wieder zu erfreuen“.
Tröstlich, dass dieses Glück nicht von materiellem Reichtum abhängig ist. Traurig allerdings, dass für viele der 53% der Weltbevölkerung, die zusammen nur 1,1% des Vermögens dieser Welt besitzen, der tägliche Kampf ums Überleben einem glücklichen Leben im Wege steht. Und das auf Kosten einiger weniger.
Lieber Motorradfahrer! Wenn nicht mehr viel Zeit bleibt, muss man auf den Punkt kommen, das herauspicken, was wichtig ist, das betrachten, was wirklich zählt. Ich würde vermutlich das und vieles mehr sagen wollen …
Wenn ich heute mit meiner Hündin durch die Natur streife, denke ich oft daran, wie die Schüler einer Biologielehrerin die erste Seite ihres Biologieheftes gestaltet hatten. Die Kinder hatten alle einen fröhlichen Menschen gezeichnet, der auf einem Weg inmitten der farbenprächtigen Natur unterwegs war und irgendwo auf der Seite war zu lesen:
„Ein glänzender Stein am Wegrand.
So klein – und doch so schön.
Ich hob ihn auf.
Er war so schön!
Ich legte ihn wieder zurück und ging weiter.“
Calvin O. John, Ute-Navajo
Zur Person:
Roland Manzl, geboren und aufgewachsen in Dornbirn/Vorarlberg. Nach dem Lehramtsstudium in Feldkirch unterrichtete er für mehr als 30 Jahre im Bregenzerwald in den Fachbereichen Mathematik, Informatik und Sport, nebenbei lehrte er Erste-Hilfe in Kursen für das Rote Kreuz. Seit einigen Jahren widmet er sich intensiv der faszinierenden Welt der Hunde und gibt dieses Wissen in individuellen Kursen als Hundetrainer weiter. Nach mehreren Grenzerfahrungen schätzt er heute mehr denn je die unermessliche Vielfalt und Schönheit der Natur und liebt es, sich täglich von der Unbeschwertheit und Lebensfreude seiner Hündin anstecken zu lassen.
Quellen:
statista 2023: Reichtumspyramide: Verteilung des Reichtums auf der Welt im Jahr 2021, abgefragt am 28.8.2023
tagesschau Bericht: Millionen Tonnen Treibhausgase durch Privatjets, abgefragt am 8.9.2023
Reinhard Haller, Die Nazissmusfalle, 1. Auflage, 2013, Ecowin Verlag, S. 60