1 Stille im weißen Meer
Gesprenkelt mit Eisschneekristallen
Es war absolute Stille. Der Schnee dämpfte jedes ferne Geräusch, schluckte alle Laute selbstverständlich. So weit weg waren wir gar nicht von der Straße, ja, wenn ich mich umdrehte, würde ich die gelegentlich über den Pass fahrenden Autos sehen.
Aber ich drehte mich nicht um.
Vor mir lagen schneebedeckte Hänge, neben mir tobte Remus vor Freude über das weiße Meer.
Mein letzter freier Tag, bevor die neue Arbeit beginnen sollte. Gut, dass ich hier oben nochmal tief Natur einatmen konnte. Ich wusste, ich würde sie brauchen. Denn eigentlich war ich nicht für das Verweilen am Bildschirm geschaffen. Aber die interessante wissenschaftliche Arbeit, der ich nachgehen durfte, erforderte das. Und es war die Arbeit, die am meisten Sinn für mich machte; die Arbeit, in der ich am wirksamsten etwas für diesen Planeten, meinen Planeten tun konnte. „Die Leute“ meinten oft, ich täte es aus purer Selbstlosigkeit und etwas zu viel Empathievermögen oder gar aus Sentimentalität.
Das entsprach nicht ganz der Realität.
Remus‘ schwarze Schnauze und Augenpartie waren mit Eisschneekristallen gesprenkelt. Er machte lustige Schnaufgeräusche, wenn er sich mit seiner Nase durch die Schneedecke schnuppernd grub, ein paar Meter weit am Boden entlang verharrend, um dann schließlich mit einer Art Seufzer plötzlich aufzufahren und um sich zu blicken. Er war frei, weil es 9 Uhr werktags und sonst fast keine Menschenseele hier oben war.
Ich kann nicht recht erklären, weshalb es mich schon als Kind „überdurchschnittlich“ stark bewegte, beschäftigte und, ja, (be)traf, Naturzerstörung oder -missachtung zu sehen. Dass dem aber so war, begriff ich schnell. Gleichzeitig merkte ich, dass es für die anderen keine große Sache war, zu lernen, wie Lebensräume für den menschlichen Nutzen ausgebeutet und teils völlig verwüstet wurden. Zumindest hatten meine Klassenkameraden das alles bald nach dem Ende der Unterrichtsstunde oder Doku vergessen. Für mich unbegreiflich schien auch niemand die Verbindung vom eben Gehörten oder Gesehenem zum eigenen Handeln oder Leben herzustellen. Da sah man wie Regenwälder für Soja-Kraftfutter zur Massentierhaltung niedergebrannt wurden und kaufte sich einen Leberkässemmel. Oder, später dann im Teenageralter, rief Anja aus Faulheit ihre Mutti an, sie solle doch von der Schule abgeholt werden. Oder flog Katharina ein Wochenende nach London, für 35 Euro, zum Shoppen.
Am Gipfelkreuz angekommen, drehte ich mich um. Remus saß neben mir, er blickte über die Hänge, nach potentieller Beute Ausschau haltend. Hinter der Straße lag eine kleine Ansiedlung von Ferienhäusern. Die Skilifte waren zu – zu wenig Schnee – und die Wege durch die Ansiedlung blieben leer. Ausgestorben. Ich ging neben Remus in die Hocke. Er beachtete mich nicht sonderlich, sein Blick immer noch in der Ferne über die Hänge fixiert. Es war absolut still, für einen Moment auch in meinen Gedanken. Schön war es, so nebeneinander, im weißen Meer.
Weiter zum nächsten literarischen Beitrag