Vor- und Nachteile der modernen Welt
Menschheitsgeschichte: Vor- und Nachteile der modernen Welt – eine Analyse nach Jared Diamond
Ist eine neue Entwicklung stets Fortschritt gleichzusetzen? Als Grundlage zur Beantwortung dieser auch philosophischen Frage werden im folgenden Beitrag einige menschheitsgeschichtliche Fakten vorgestellt, die im Wesentlich aus Jared Diamonds Werk „Vermächtnis. Was wir von traditionellen Gesellschaften lernen können“ stammen. Die Zusammenschau dieser gesellschaftlichen Merkmale legt auch den Zusammenhang unserer Lebensweise und Gesundheit und der Intaktheit der Ökosysteme nahe.
Jared Diamond
Jared Mason Diamond (Jahrgang 1937) ist ein amerikanischer Wissenschaftler, Historiker und Autor, der vor allem für seine populärwissenschaftlichen und historischen Bücher und Artikel bekannt ist. Ursprünglich in Biochemie und Physiologie ausgebildet, wird Diamond gemeinhin als Universalgelehrter bezeichnet, was auf seine Kenntnisse in vielen Bereichen wie Anthropologie, Ökologie, Geografie und Evolutionsbiologie zurückzuführen ist. Seine bekanntesten Werke sind „Der dritte Schimpanse: Evolution und Zukunft des Menschen“, „Arm und Reich – Die Schicksale menschlicher Gesellschaften“ und „Kollaps: Warum Gesellschaften überleben oder untergehen“. Seit Juni 2004 ist er Professor für Geografie an der University of California, Los Angeles.
Hintergrund
Jared Diamond untersuchte 39 traditionelle Kleinbauern- und Jäger-Sammler-Gesellschaften im Hinblick darauf, wie sie mit universellen menschlichen Problemen umgehen, etwa der Aufteilung von Raum, die Lösung von Streitigkeiten, die Erziehung von Kindern, der Umgang mit Älteren, die Bewältigung von Gefahren, die Formulierung von Religionen, das Erlernen mehrerer Sprachen und die Erhaltung der Gesundheit. Im Zentrum seiner Analysen stehen seine Forschungsaufenthalte in Neuguinea, der nach Grönland zweitgrößten Insel der Welt, die in der Nähe des Äquators, im Norden des australischen Kontinents liegt. Über 50 Jahre lang pendelte der Humangeograph zwischen den Vereinigten Staaten und dem Inselstaat, auf dem rund tausend verschiedene Sprachen sprechende indigene Bevölkerungsgruppen bevölkert sind.
Was traditionelle und moderne Gesellschaften kennzeichnet
Diamond definiert „traditionelle Gesellschaften“ oder „Kleingesellschaften“ als „Gesellschaften aus der Vergangenheit und Gegenwart mit geringer Bevölkerungsdichte und kleinen Gruppen, die aus einigen Dutzend bis wenigen tausend Menschen bestehen“, die vom Jagen und Sammeln oder von Ackerbau und Viehzucht leben und sich nur in begrenztem Umfang durch den Kontakt mit großen, vom „Westen“ beeinflussten Industriegesellschaften gewandelt haben. Der Forscher räumt dabei ein, dass sich beinahe alle vorwiegend traditionellen Gesellschaften heute durch den zumindest teilweisen Kontakt mit den „modernen“ Industriegesellschaften verändert haben und auch als „Übergangsgesellschaften“ bezeichnet werden können. Den traditionellen Gesellschaften gegenüber stehen, plakativ ausgedrückt, WEIRD-Gesellschaften (white, educated, industrialized, rich, democractic; also weiß, gebildet, industrialisiert, reich und demokratisch). Selbstverständlich sind diese fünf Adjektive unzureichend, um auch die Vielfalt moderner Gesellschaften abzubilden, insbesondere was die Hautfarbe betrifft.
Wesentliche Merkmale traditioneller Gesellschaften sind die große Bedeutung familiärer Bande mit entsprechend viel Raum für generationenübergreifende Kommunikation und Austausch (auch Konfliktgespräche), generell persönliche Konfliktlösungsstrategien (ohne Justiz in Form von Rechtsstreits mit Anwälten), Vorsicht und Wachsamkeit gegenüber möglichen natürlicher Gefahren oder Gefahr vor anderen Stämmen und Fremden, ein hohes Maß körperlicher Betätigung („Fitness“), ein „loserer“ Umgang mit Zeit, verbreiteter Mehrsprachigkeit, (religiöse) Rituale und Glauben, eine Kindererziehung, die großen Wert auf frühe Selbstständigkeit legt, und noch einige mehr.
Moderne Gesellschaften sind geprägt von materiellem Wohlstand, allgemeinhin funktionierenden und guten Bildungs-, Gesundheits- und Justizsystemen, staatlich gewährleisteter Sicherheit, ausgebauter Infrastruktur, Anonymität, persönlichen Freiheitsrechten und starker Arbeitsteilung, um auch hier nur einige Merkmale anzuführen. Vereinsamung, Überalterung und große soziale Ungleichheiten sind jedoch ebenso zu nennen wie die sogenannten Zivilisationskrankheiten (auch „Wohlstandskrankheiten“ oder „Lebensstilkrankheiten“): Krankheiten, die durch die mit der Zivilisation verbundenen Lebensweisen hervorgerufen werden, wie Fettleibigkeit, Herz-Kreislauf-Erkrankungen (Bluthochdruck, Herzinfarkte, Schlaganfälle, etc.), Krebs, Diabetes, Depressionen und Angstzustände.
Die An- und Abwesenheit von Zivilisationskrankheiten
Der Begriff „Zivilisationskrankheit“ entstand bereits im 19. Jahrhundert und wurde vom New Yorker Neurologen George M. Beard für eine psychische Störung verwendet. Heute werden damit meist Krankheiten oder krankheitsähnliche Zustände bezeichnet, die in den Ländern des globalen Nordens (den ehemaligen Industriestaaten) deutlich häufiger sind als im globalen Süden (den Entwicklungsländern). In fast allen industrialisierten Ländern treten Zivilisationskrankheiten auf und sind inzwischen häufige Todesursachen – trotz verbesserter Hygiene, medizinischem Fortschritt in der Vorbeugung (z. B. Impfungen) und der Therapie von Erkrankungen (z. B. Antibiotika) sowie eine gute Nahrungsversorgung. Während in Ländern mit niedrigem Einkommen bzw. traditionelleren Gesellschaften Infektionen die Haupttodesursachen sind, sind die weltweit häufigsten Todesursachen heute Herzinfarkte, Schlaganfälle und chronische Lungenkrankheiten.
Zu den typischen Krankheitsbildern gehören Verdauungs- und Stoffwechselstörungen (Diabetes mellitus Typ 2, Übergewicht und Adipositas, Gicht), Neurosen und Kreislaufstörungen (Herz- und Gefäßkrankheiten, Bluthochdruck), manche Allergien, bestimmte Krebserkrankungen (z. B. Lungenkrebs, Darmkrebs), bestimmte Hauterkrankungen (z. B. Neurodermitis, Akne) und bestimmte psychiatrische Erkrankungen wie Depressionen, Angsterkrankungen und Essstörungen (Anorexia nervosa, Bulimia nervosa).
Die Ursachen dieser Erkrankungen wird in den in Industrieländern vorherrschenden Bedingungen gesehen, ohne dass dies im Einzelfall wissenschaftlich zu bewiesen ist. Wahrscheinlich sind nicht einzelne Faktoren ursächlich, sondern ein Zusammenspiel aus genetischer Veranlagung, Lebensstil und Umwelt. Weitgehend akzeptierte Risikofaktoren sind: hoher Zuckerkonsum, Fehl- und Überernährung, Bewegungsmangel, Suchtmittel- und Drogenkonsum (z. B. Tabakrauch, Alkohol, Beruhigungsmittel), Umweltgifte, niedrige Atemluftqualität, Lärmbelastung, mangelnder Kontakt mit Tageslicht, soziale Faktoren und Normen (z. B. Leistungsdruck, Stress, Arbeitslosigkeit, Vereinsamung), übermäßige Hygiene, mediale Reizüberflutung und auch eine hohe Lebenserwartung, die quasi zwangsweise die Wahrscheinlichkeit hebt, an einer Krankheit zu erkranken.
Die Gefahren traditioneller Gesellschaften
Den Zivilisationskrankheiten gegenüber stehen die Gefahren traditioneller Gesellschaften. Die Umwelt steht unter den Todesursachen erst an dritter Stelle nach den (vorwiegend) Infektionskrankheiten und der Gewalt zwischen Menschen. Zu den umweltbedingen Unfällen zählen Begegnungen mit Gift- und Raubtieren, Stürze mit Knochenbrüchen und anderen Verletzungen als Folge, seltener Ertrinken, Erfrieren, Feuer. Laut Diamond gibt es zwei Gründe, weshalb Menschen aus traditionellen Gesellschaften so bereitwillig ihre Lebensweise aufgeben, wenn sie die Möglichkeit dazu bekommen. Einer besteht darin, dass das Gesamtrisiko eines Unfalles in modernen Staaten vermutlich geringer ist, da diese mehr Kontrolle auf die Umwelt ausüben. Ein zweiter besteht darin, dass nach Unfällen wie Stürzen mit Knochenbrüchen als Folge die medizinische Versorgung häufig bleibende körperliche Schäden und Behinderungen verhindern kann. Hunger bzw. Verhungern ist auch eine Gefahr traditioneller Gesellschaften, sie hängt jedoch sehr von der geographischen Region ab.
Lebensstilfragen, die persönliche Gesundheit und die Intaktheit der Ökosysteme
Was hat es mit der Zusammentragung der Kennzeichen moderner und traditioneller Gesellschaften auf sich – und was haben sie mit dem Klima- und Artenschutz zu tun? Abgesehen von offensichtlichen Gemeinsamkeiten, wie Umweltgiften, niedriger Atemluftqualität und hoher Lärmbelastung, die nicht nur der menschlichen Gesundheit, sondern der Gesundheit aller Tierarten schadet, wirft eine gesamtheitliche Betrachtung des „modernen“ Lebensstils die Frage auf, ob nicht einige seiner Elemente mehr Rück- als Fortschritt sind und weder der Menschheit, isoliert betrachtet, noch dem Planeten mit seinen Ökosystemen zuträglich sind. Die Herausforderungen unserer Zeit erfordern einen klimaverträglichen, die Natur und Artenvielfalt schützenden Lebensstil – und wir als Menschheit würden in vielerlei Aspekten davon profitieren, als Teil der Weltökosysteme und ganz für uns selbst.
Quellen:
Jared Diamond: Vermächtnis. Was wir von traditionellen Gesellschaften lernen können. 2012. Fischer Verlag, 586 Seiten. ISBN: 978-3-100-13909-2
Jared Diamond: The Worst Mistake in the History of the Human Race. 1987. Discover Magazine, S. 64-66. https://www.ditext.com/diamond/mistake.html, abgerufen am 1.03.2024
Wikipedia-Artikel „Zivilisationskrankheiten“, https://de.wikipedia.org/wiki/Zivilisationskrankheit, abgerufen am 1.03.2024